Weihnachten rund um die Welt


Der Böse Wolf erklärt Berlin

Wenn sich am „Heiligen Abend“ die Familien besinnlich zusammenfinden, wenn die Christmetten die Gläubigen aufrichten und den weniger Gläubigen zumindest das Gefühl der Glaubenspflichterfüllung geben, wenn die ewig übersättigten Berufsjugendlichen sich auf „Christmas Partys“ begeben und sich dabei innerlich rebellierend vorkommen, wenn Marianne und Michael ihren Jüngern zum hundertsten Mal weismachen wollen, dass Weihnachten in den Bergen am schönsten ist, wenn die grell beleuchteten Kaufhöfe und die brüllenden Media Märkte ihre Pforten geschlossen haben, dann werden wichtige Politiker und frömmelnde Bischöfe mit salbungsvoller Miene wieder von dem lieben Kindlein sprechen, das unter ärmlichen Bedingungen im Stall von Bethlehem zur Welt kam. Und sie werden – wie so oft – ihre Zuhörer mahnen, dass die Kinder dieser Welt etwas sehr Wertvolles seien und dass sie die Zukunft seien und dass man sie schützen müsse und dass man dafür Sorge zu tragen habe, dass es ihnen an nichts fehle.

Im weihnachtlichen Deutschland werden, wenn es an die Bescherung geht, viele Kinder ihre Eltern fragen, warum der Gabentisch nicht so reichhaltig oder gar nicht gedeckt ist. Und die Eltern werden ihnen erklären, dass in diesem Land zwar Milliarden und Abermilliarden Euro vorhanden sind, um Banken und Banker aber nicht um arme Kinder glücklich zu machen. Und sie werden ihnen vielleicht auch erklären, dass sie sich in recht großer Gesellschaft befinden, denn immerhin, so fanden kluge Leute heraus, leben in Deutschland 14 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in dem Zustand, den man Kinderarmut nennt, der aber eigentlich Familienarmut heißen sollte.

Ähnliche Fragen werden am Weihnachtstage auch viele Kinder ihren Eltern zum Beispiel in Lateinamerika stellen. Nur dass sie nicht nach Weihnachtsgeschenken, sondern nach einem warmen Essen und vielleicht auch nach Medizin fragen werden. Und die Eltern werden ihnen erklären, dass das Land, in dem sie leben, zwar reich an Rohstoffen ist, die korrupte Regierung diese aber an internationale Konzerne verhökert hat und die Einheimischen außer harter, krank machender und schlecht bezahlter Arbeit nichts davon haben. Dass man noch froh sein könne, dass es nicht überall so schlimm sei wie in der Minenstadt La Oroya in Peru, wo ein US-amerikanischer Konzern Blei und Zink abbauen lässt und sich einen Dreck um die Gesundheit seiner Arbeiter und der Bewohner der Stadt schert, in der so viele Kinder mit Behinderungen auf die Welt kommen und dann, wenn sie es schaffen, erwachsen zu werden, an Krebs sterben. Und während die Eltern dies erklären, werden sie hoffen, dass ihre Kinder nicht eines Tages in die Fänge eines dieser vielen kleinen Drogenbosse geraten, die mit ihren Banden die Armenviertel der großen Städte beherrschen, und dass ihre Kinder nicht irgendwann erschossen in der Gosse liegen.

In einigen Ländern Afrikas aber auch Südamerikas und des Nahen Ostens werden an den Weihnachtstagen viele Kinder ihre Eltern gar nichts fragen können, denn ihre Eltern haben sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Weil sie auf dem Schulweg paramilitärischen Häschern in die Arme liefen und verschleppt worden sind und nun als Kindersoldaten zur Sklavenarbeit, zum Plündern, zum Brandschatzen und zum Morden gezwungen werden und ihr zartes Leben opfern müssen für die Privatkriege irgendwelcher Rebellenführer, War Lords oder sonstwelcher feiner Herren im edlen Zwirn auf weichen Kissen. Man schätzt, dass es weltweit 250 000 Kindersoldaten gibt.

Zwischen drei und vier Millionen Kinder, auch dies eine Schätzung, werden an diesen Weihnachtstagen rund um die Welt gezwungen sein, sich zu prostituieren, um triebgesteuerten Unmenschen, die ihre Armut ausnutzen, ein paar schöne Stunden zu bereiten oder vor der Kamera zu posieren, damit auch die Verbrecher auf ihrer Kosten kommen, die lieber zu Hause oder im Büro genießen. Es werden weitere Millionen Kinder in Fabriken, in Bergwerken und auf Feldern schuften, sich die Gelenke und die Knochen kaputt machen und Staub und giftige Partikel einatmen, während sie auch Waren herstellen, die unter deutschen Weihnachtsbäumen landen. Oder sie werden Waren, die einstmals unter den Weihnachtsbäumen lagen, wieder in ihre Einzelteile zerlegen. So wie die Kinder auf den Mülldeponien in Ghana. Hier werden jeden Monat Hunderte Container mit Schrottcomputern von skrupellosen europäischen „Entsorgungsunternehmen“ angeliefert. Die Kinder müssen die Computer und Monitore auseinander nehmen und die einzelnen Teile ins Feuer werfen, damit sich Plastik von Metall löst. Die dabei entstehenden Dämpfe vergiften die schuftenden Kinder, teilweise nicht einmal zehn Jahre alt, und fressen sich in ihre Lungen, Nieren und Gehirne.

Wie viele Kinder in den so genannten Entwicklungsländern während der Weihnachtstage sterben, weil sie zu krank sind und ihre Eltern zu arm, und die Pharmaindustrie nichts zu verschenken hat, wird niemand zählen. Man weiß, dass allein an Malaria, einer mit entsprechenden Medikamenten heilbaren Krankheit, jedes Jahr rund 800 000 und an Durchfallerkrankungen jährlich 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben. Man weiß auch, dass im Jahr 2008 rund 280 000 Kinder an den Folgen von AIDS starben und 2,1 Millionen Kinder den tödlichen Virus in sich trugen. Allein in Afrika sterben jedes Jahr 80 000 bis 90 000 Kinder an der „Armenkrankheit“ Noma. Aber wer könnte schon sagen, wie viele Kinder in den „Entwicklungsländern“ dem Tod näher als dem Leben sind – einfach weil sie keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Wer weiß überhaupt, dass es diese Kinder gibt? Die ärmsten der Armen werden bei ihrer Geburt nicht einmal registriert. Und wie viele Hunderttausende Kinder an diesen Weihnachtstagen in den zur Zeit ungefähr 30 Kriegen und bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt ihre Freunde und Verwandte verlieren, fliehen müssen, verletzt und getötet werden, wird ebenfalls ungezählt bleiben. Genauso wie die Zahl der Kinder, die als Opfer von terroristischen Anschlägen sterben oder gezwungen werden, als Selbstmordattentäter die Ideologien der Erwachsenen in die Gesellschaften hinein zu bomben. Wie viele Kinder werden in diesen Tagen fröhlich zum Spielen gehen und dabei auf eine zurückgelassene Landmine treten und zerfetzt werden?

In seiner Weihnachtsansprache für das Jahr 2008 wandte sich Bundespräsident Horst Köhler mit folgenden Worten an die Bevölkerung: „Ich sehe in der Krise auch eine Chance. Eine Chance für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Eine Chance für eine bessere Ordnung von Wirtschaft und Finanzen, in der das Kapital allen zu Diensten ist und sich niemand davon beherrscht fühlen muss. Wenn wir dafür arbeiten, dann macht uns diese Krise stärker. Jetzt muss sich entsprechend verhalten, wer Verantwortung trägt und Rechenschaft schuldet. Wir brauchen Achtsamkeit für das Gemeinwohl. Wir brauchen Anstand, Bescheidenheit und Maß.“

Wenn der 24.12.2009 zu Ende geht, werden an diesem einzigen Tag – wie an allen übrigen Tagen des Jahres auch – weltweit 16 000 Kinder an Hunger gestorben sein.

Benedict Ugarte Chacón


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