Flasche leer?


8 oder 15 Cent – das ist hier die Frage

Ein wirklich boomender Markt, das ist unserer. Die Konkurrenz wächst von Monat zu Monat. Manche von uns überlisten die neuen West-Türschlösser in den alten Türen der Ost-Häuser mit einer einfachen Plastikkarte. Im Hof schauen wir dann in fast alle Tonnen: In die für Glas, die für Papier, in die Gelbe Tonne und in den Restmüll; den Biomüll lassen wir meist außer Acht. Oft finden wir weder da noch dort etwas. Auch den Mülleimern an der Straßenecke widmen wir uns. Manche benutzen Taschenlampen, um hineinzuleuchten, denn dann brauchen wir nicht so sehr im zerrissenen Plastik, im zerknüllten Papier, in den Essensresten und gebrauchten Taschentüchern herumzuwühlen. Mag eigentlich noch irgendjemand sein Ekelzeug in die öffentlichen Mülleimer werfen?

Früher hat man es uns auf drei Kilometer Entfernung angesehen. Klar, auch heute noch sind einige von uns hinkende, alte Frauen in verlumpten Strickjacken oder Hauskitteln, Schuhen aus den 80ern und zerknautschtem Gesicht. Andere von uns tragen Jeans-Klamotten, Sportschuhe und Rucksäcke – von dieser Sorte gibt es immer mehr, von der anderen nie weniger. Manche Leute halten uns für Büroangestellte. Lustig, denn eigentlich arbeiten wir so autonom wie sonst kaum jemand. Ohne Aldi-, Lidl-, Penny- oder Plus-Tüten wird man uns nur selten zu sehen bekommen; sie sind unsere Basisausstattung. Effizienz gehört zu den Grundregeln. Wer es zu gemütlich angeht, kann sich morgen Mittag den Frühstückskaffee nicht leisten oder zum nächsten Ersten seine Schulden nicht bedienen. Und wer zwischendurch nach Hause geht, um zwischenzulagern, verliert wertvolle Zeit, in der die Anderen alles abgrasen.

Seit ein paar Jahren stellen uns die Leute ihre leeren Flaschen gut sichtbar an den Gehwegrand. Immer mehr machen das so. Für viele ist es ganz sicher die einzige soziale Tat des Tages. Die Jugendlichen haben damit angefangen. Sie denken noch unkomplizierter, ganz pragmatisch. Außerdem macht es einen guten Eindruck bei der Freundin. Mitunter ist es eine noble Pflicht. In den Gegenden der Stadt, wo viele Leute ausgehen, die neben ihrer unbändigen Feierlaune auch ein ungepfändetes Konto ihr Eigen nennen, gilt das ganz besonders: Im Prenzlauer Berg, im Friedrichshain, in Mitte – in Kreuzberg seltener.

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. In den späteren Abend- und Nachtstunden aber wächst der Konsum und damit unsere Chance auf ein Auskommen. Wenn die Leute heiter nach Hause wanken, dann beginnt für uns die Arbeitszeit. Wir arbeiten überall in der Stadt und wir sind unüberhörbar. Klar, das Klirren der Flaschen beschämt. Doch es ist kein Spaßartikel, man kann es nicht abstellen.

Beim Sammeln sind wir flink. Überhaupt geht alles rasant: Nach und nach fallen bei den meisten von uns die Charmegrenzen – Stufe für Stufe. Es ist kaum möglich, die Flaschen schnell einzustecken, denn erst einmal müssen wir den restlichen Fusel ausschütten, denn sonst wird das Ganze zu einer noch weitaus klebrigeren Angelegenheit als ohnehin schon: In kürzester Zeit sind Taschen, Kleider und Haut alkoholdurchtränkt. Und das fällt dann noch mehr auf.

Einige von uns behängen ihr Fahrrad mit Tüten, in denen täglich hunderte Flaschen ihrer Erlösung in den Sammelautomaten der Discounter harren. Dort geschieht es relativ anonym. Auch untereinander bleiben wir lieber anonym, obgleich wir uns fortwährend begegnen und bereits nach wenigen Tagen wissen, wer wann und wo seine Strecke läuft. Wir fixieren einander nicht. Genausowenig schauen wir den Leuten auf der Straße ins Gesicht. Wir handeln zielstrebig.

Im Dunkeln können wir nicht erkennen, ob vielleicht Hunde an die Flaschen gepinkelt haben – oder auch Menschen. Und nicht alle von uns greifen in die Müllkübel am Straßeneck hinein, aber die meisten schon, denn auf dem Trottoir finden sich einfach immer noch nicht genügend Flaschen. Genügsamkeit, ja das ist ohnehin ein relativer Begriff. Das Pfandflaschensammeln wird zum Fieber und nicht alle von uns machen es aus blanker Not heraus. Gerade für die Autodidakten unter den Raffgeiern ist diese Tätigkeit wie geschaffen. Natürlich muss man sein moralisches Empfinden abstreifen, um Anderen die Flaschen vor der Nase wegzuschnappen. Doch oft genug sind die Übergänge fließend.

Alle kennen uns. Abwertende Blicke werden seltener – beschämt schauen allerdings auch nur noch die Wenigsten. Wir sind eine der großen sichtbaren Gruppen der Unsichtbaren. Auffallen wollen wir alle nicht und das ist den Anderen wohl auch ganz recht so. Schweigen im Walde.

Ostprinzessin


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