Eines der Hauptmotive der Weihnachtsgeschichte ist die Herbergssuche von Josef und Maria. Das Paar wird, obwohl Maria hochschwanger ist, von mehreren Wirten abgewiesen. Nur in einem Stall in der Nähe von Bethlehem ist noch Platz. Und so bringt Maria ihren Sohn eben dort zur Welt und legt ihn in die mit Stroh gefüllte Krippe.
In der einen oder anderen Weihnachtsmesse wird wohl auch in diesem Jahr von der Herbergssuche gepredigt werden. Und die üblichen Festredner – ob Politiker oder Fernsehmoderatoren – werden ebenfalls auf diese Geschichte zu sprechen kommen, deren Moral ja recht einfach zu verstehen ist: Seht, man weist Menschen, die sich in einer Notlage befinden, nicht einfach von der Tür, sondern man soll ihnen Obdach gewähren, sie bei sich aufnehmen. Und ja, aus der weihnachtlich-warmen Stube heraus lassen sich glänzend moralische Gedanken machen. Man muss dabei nur ausblenden, dass es den Menschen, die heute abgewiesen werden oder die auf ihrem Weg nicht einmal an die Grenzen gelangen, von denen sie dann abgewiesen werden könnten, schlechter geht, als Maria und Josef im Stall von Bethlehem. Zu ihnen kommen keine Hirten oder Weise aus dem Morgenland. Sie fristen ein karges Dasein in einem illegalen Flüchtlingslager irgendwo zwischen den Staaten von Afrika oder in einem „Auffanglager“ auf Lampedusa. Oder sie treiben tot und vergessen im Mittelmeer, welches sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben in einem kleinen, überlasteten Fischerboot überqueren wollten.
Die tageszeitung verwies Anfang November auf eine in Marokko vorgestellte Bilanz, wonach allein in der zweiten Oktoberhälfte dieses Jahres 90 Flüchtlinge auf dem Weg über das Mittelmeer ertrunken seien. Regelmäßig zieht die italienische Küstenwache Leichen von Flüchtlingen aus dem Meer. Nach Schätzungen der UNHCR gibt es weltweit 43 Millionen Flüchtlinge oder Menschen, die in einer „flüchtlingsähnlichen Situation“ leben müssen. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig: Krieg, Folter, Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung oder einfach die Armut, die ihnen das Leben in ihrer Heimat unerträglich macht. Und diese Armut ist nicht gottgegeben, sie ist von Menschen gemacht. Auch durch die Gier der Menschen auf einem Teil der Erde, die die Augen vom dadurch verursachten Elend auf dem anderen Teil verschließen müssen, weil es sonst unerträglich würde. Aber: Auf den eigenen Wohlstand zu verzichten, wäre undenkbar.
Und so wird mit dem Hunger, der Armut und dem Tod von Millionen Menschen spekuliert. Ob milliardenschwere Fonds, Banken oder Kleinanleger – allesamt beteiligen sie sich an der Spekulation mit Rohstoff-Papieren und setzen damit auch auf möglichst steigende Preise von Getreide, Zucker oder Speiseöl. Die Rohstoffbörse bestimmt den Preis. Von 2001 bis 2011 haben sich die Weltmarktpreise der ernährungsrelevanten Rohstoffe teilweise mehr als verdoppelt. Der Welthungerindex 2011 benennt die Ausweitung von Warentermingeschäften mit Agrargütern neben der Verwendung von Agrarprodukten zur Treibstoffherstellung und durch den Klimawandel hervorgerufene extreme Wetterereignisse als Hauptursache für höhere Lebensmittelpreise und deren starke Schwankung. Arme, hungernde Menschen können weder mit Preisanstiegen mithalten noch sich den starken Preisschwankungen anpassen – sie können höchstens ihre Kalorienzufuhr vermindern und stärker hungern oder im Zweifelsfall auf billigere, minderwertige Lebensmittel zurückgreifen. Beides führt zu Mangel- und Unterernährung, zu Krankheit und Tod.
Dass die Preise stark schwanken, ermöglicht Investoren eine höhere Renditechance, was wiederum zu vermehrten Spekulationen führt. Ein Teufelskreis, der die Situation der Ärmsten der Armen in den nächsten Jahren weiter verschärfen wird. Die Kriege der Zukunft mögen um Wasser geführt werden. Die Aufstände der Gegenwart werden aus Hunger geführt. Wer will es da den Menschen verübeln, auf ein Leben jenseits von Krieg, Hunger und Elend zu hoffen und sich auf den Weg in scheinbar bessere Gefilde zu machen? Dies sollten sich vor allem jene kleinen Leute vor Augen halten, die in einer diffusen Mischung aus Ängstlichkeit und falschem Stolz von „Wirtschaftsflüchtlingen“ salbadern. Es sei hier an die Worte von Bertolt Brecht erinnert, der den armen Mann zum reichen Mann bleich sagen lässt: „…wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
Mit jenen, die es hinter die Grenzen geschafft haben und denen man nun unsere Gastfreundschaft vorhält, wird nicht weniger demütigend verfahren als mit jenen, denen der erste Eintritt gar nicht erst gelingt. Als Beispiel dafür mögen hier die Vorkommnisse geschildert sein, die sich im vorgeblichen Herzen der Stadt, am Brandenburger Tor, abspielten: Der erste Advent 2012 war in Berlin ein trüber Tag. Es herrschten Temperaturen zwischen minus und plus zwei Grad und der Tag war einer der ersten des Jahres, an dem leichter Schnee fiel. Wie es fast typisch für solchen ersten Schnee ist, blieben die Straßen nicht lange weiß, sondern der Schnee wurde schnell zu einem feuchten Matsch, der die Stadt noch ungemütlicher machte. Hielt man sich an diesem Tag länger im Freien auf, so kroch die feuchte Kälte durch die Kleidung und man war froh, wenn man es irgendwo behaglich hatte.
Feierlich ging es zu an diesem ersten Advent. Vor der erhabenen Kulisse des Brandenburger Tores wurde der traditionelle Weihnachtsbaum erleuchtet, den Norwegen jedes Jahr als Zeichen des Friedens an Berlin spendiert. Unterhalten wurden die Besucher von einer Trompeter-Gruppe, die weihnachtliche Weisen zum Besten gab, dazu gab es Waffeln, Würstchen und Glühwein. Am Abend zuvor hatte ein braver Beamter des Ordnungsamts Mitte den Pariser Platz für die besinnliche Adventsfeier herrichten lassen. Denn den Besuchern sollte die Stimmung nicht mit dem Anblick eines Busses getrübt werden, der schon einige Zeit dort stand. Es handelte sich um einen „Wärmebus“. In ihm konnte sich das Dutzend Flüchtlinge aufwärmen und erholen, das schon seit einigen Wochen bei Kälte, Regen und nun auch Schnee Tag und Nacht auf dem Platz ausharrt.
Die Flüchtlinge sind zu Fuß nach einem langen Marsch durch die halbe Republik nach Berlin gekommen, um gegen die Bedingungen zu protestieren, denen sie ausgesetzt sind. So dürfen sie den ihnen zugewiesenen Landkreis nicht verlassen, werden in „Sammelunterkünften“ weggesperrt, warten viel zu lange auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge und wollen – so wie jeder Mensch – würdig behandelt werden. Die Flüchtlinge am Brandenburger Tor sind so verzweifelt und entschlossen, dass sie sich in einen Hungerstreik begaben. Der Wärmebus, den ein privater Unterstützer auf den Platz gefahren hatte, wurde ihnen genommen. Die Polizisten machten ihn unbrauchbar, so dass er nicht mehr heizen kann. Das tolerante und multikulturelle Berlin zeigte den Flüchtlingen seine obrigkeitsstaatliche Fratze.
Eine wirkliche Weihnachtsbotschaft – wenn man diesen süßlichen Begriff gebrauchen möchte – brachten weder Pfarrer noch Politiker zu den Flüchtlingen ans Brandenburger Tor. Dies übernahmen zahlreiche stillere und lautere Unterstützerinnen und Unterstützer, die Kleidung herbeischafften, die für Decken sorgten, die warme Getränke und Wärmflaschen bereitstellten. Alles schnell organisiert und auf eigene Kosten. Die Botschaft hieß: „Ihr seid nicht allein“.
Benedict Ugarte Chacón