Die Stadtumstrukturierung Berlins im globalen Kontext
Die Geschichte Berlins in den letzten 15 Jahren kann beispielgebend für einen weltweit ablaufenden Unstrukturierungsprozess stehen. Warum?
Mit dem Fall der Mauer und der Auflösung des politischen Ost-West-Konflikts in dieser Stadt, versuchte sich das westdeutsche Wirtschafts- und Wertesystem alle Bereiche dieser Stadt anzueignen. Mit dem Ende des Kalten Krieges löste sich generell ein Feindmuster, eine Konkurrenz auf, die sich zunehmend in die Verschärfung von Armuts- und Reichtumsgegensätzen verlagern sollte. Zunächst aber war Berlin, so wie alle neuen Bundesländer, ökonomisch die einmalige Chance der einfachen Reproduktion des Kapitals. Mit besonderen Steuerabschreibungen und vereinfachten Planungsverfahren warf die westdeutsche Regierung alles über den Haufen, was in jahrzehntelangem Kampf partizipatorischer Bewegungen in die Baugesetzgebung und in das Raumordnungsverfahren Eingang gefunden hatte. Während mit dem Ende der DDR auch die Vorzüge des Osten wie z. B. die Rolle der Kinder für eine Gesellschaft, die Situation von Frauen in Berufstätigkeit und Mutterschaft, ein relativ egalitäres Leben auf einem geringem Konsumniveau, Städte ohne Segregation und Zersiedlung des Umlandes u. ä., über den Haufen geworfen wurden, zeigte das Kapital – angesichts ungezügelter Wachstumschancen – keine Scheu, jede Form von Demokratie gerade im Planungsrecht angesichts der sog. nachholenden Entwicklung abzubauen. Die historische Chance, die Vorzüge des Sozialismus mit den Vorzügen der westdeutschen Gesellschaft, ihren partizipatorischen städtischen Bewegungen und Demokratieformen zu verbinden, hatte weder einen intellektuellen noch einen politischen Träger.
Berlin setzte im Windschatten der bundesdeutschen Sonderregelungen auf Erweiterung im Umland, also Expansion, und in der Innenstadt auf nachholende Sanierung durch privates Kapital, um in der Konkurrenz mit anderen Metropolen sowohl das Finanzkapital als auch die Eliten in die Stadt zu holen. Wollen wir diese Konkurrenz?
Zunächst aber blieben die aus dem Boden schießenden Bürgerinitiativen vereinzelt. Ein ernsthaftes Mitspracherecht bei der Entwicklung ihrer städtischen Lebensräume bekamen sie nicht und haben sie sich auch nicht genommen. Es gab keinen politischen und intellektuellen Träger für ihre Interessen. Auch für die Sanierungsträger der Westberliner behutsamen Stadterneuerung, die seinerzeit aus den Straßenkämpfen Kreuzbergs hervorgingen, war die Osterweiterung Berlins die Erweiterung eines Arbeitsmarktes. Moralisch wurde dieser Prozess begleitet durch die „Restitution vor Entschädigung“, in Wahrheit waren es aber die wie Pilze aus dem Boden schießenden Immobilienfondsgesellschaften und Entwicklungs- und Bauträger, die das Bild der Stadt nachhaltig verändert haben.
Der Berliner Bankenskandal ist in gewisser Weise die endgültige Vereinigung der Nachteile von Ost und West, eines ungezügelten Strebens nach Gewinn durch Immobilienspekulation mit in sich geschlossenen Machtstrukturen. Wer dafür zahlt, sind die Bürger, die sich nicht über ihr Einkommen private Dienstleistungen sichern können. Es wird an Allem gekürzt, was ehemals das Gemeinwesen ausmachte: Bildung, Kultur, Stadtteilarbeit usw.; umso mehr hätschelt man das Kapital und bietet ihm alle Möglichkeiten, die Räume der Stadt für finanzträchtige Mieter oder Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Und hier folgt Berlin dem sich gleichenden Muster in der Stadtentwicklung aller Metropolen. Gewinne über die Stadtrandentwicklung mit Eigenheimbau und dem Zersiedeln durch Einkaufsmärkte sind begrenzt. Also zurück in die Stadt und Nachverdichten und Topsanieren. Gleichzeitig erfolgt eine sog. Tertiärisierung der Innenstädte, d. h. mit Gewerbe und Dienstleistungen lässt sich mehr Miete machen, also werden Wohnungen umgewandelt in Rechtsanwaltsbüros, Arztpraxen, Medienfirmen usw. usf.
Und diese Entwicklung wird immer gegen die Interessen der dort lebenden Bewohner durchgesetzt. Sie werden verdrängt und die Stadt schüttelt sich neu zusammen in die Gebiete der Eliten und die Stadtteile der für den Kapitalverwertungsprozess herausfallenden „Abfallmasse“. Diese wird weiter mit Konsum bespielt, um bei der Sublimierung ihrer trivialen Bedürfnisse bei Laune gehalten zu werden und über symbolische Lebensstilfragen voneinander und gegeneinander aufgebracht zu sein. Widerstand wird kriminalisiert.
Gibt es eine Chance, den sich global konkurrierenden Städten und ihren immer wiederkehrenden Verwertungsabläufen von Segregation und Gentrifizierung, von Wachstum und Schrumpfung etwas entgegenzustellen? Natürlich, es wäre nicht das Kapital in seiner historischen Bedeutung, wenn mit der Zuspitzung der Widersprüche nicht auch gleichzeitig die Chance wachsen würde, diesem inneren Band der Triebkraft des Geldes, des sich ständig zu vermehrenden und dafür Kriege und Ausbeutung billigend in Kauf nehmenden, etwas entgegenstellen zu können. Und das sind die Städte. In ihnen wird die ungebremste wirtschaftliche Entwicklung sichtbar, zeigen sich die Widersprüche in kleinteiligen lokalen Zusammenhängen. Die Ungerechtigkeit bekommt einen Namen und die Moderationsfähigkeit der Prozesse zeigt ihre Grenzen auf. Denn die neoliberale Idee einer Moderation der Prozesse (international auch als Governance bezeichnet) scheitert gerade für die, die davon am stärksten betroffen sind. Sie erhalten keine Zugangsmöglichkeiten, um ihre Interessen einzubringen. Die Arbeitslosigkeit, die Überschuldungssituation kleiner Gewerbetreibenden, die Armut und hier besonders die Alters- und Kinderarmut haben ein Ausmaß erreicht, das man nicht mehr in sozialer Ausgrenzung verstecken kann. Selbst im offiziellen Armutsbericht der Bundesregierung sind Kinder als Armutsrisiko angeführt.
Und was wird dem gegenwärtig entgegengesetzt? Die Gewerkschaften kämpfen mit ihren eingefahrenen Ritualen an historischen Fronten. Aber es geht nicht mehr um die Wahrung des Lebensstandards für eine geringerwerdende Minderheit, sondern die Umkehr von grenzlosem Wachstum in ein sozial gerechtes Verteilungsprinzip, bei dem die materielle Lebensgrundlage nur eine Voraussetzung ist, das „Miteinander-Leben“ aber eine, dem gleichwertige Bedeutung zukommt. Und es geht um das Aufbrechen des Kampfes für Einzelinteressen. Angesichts des ungeheuren Reichtums, deren Vermehrung in den Wachstumsbranchen anhält und dem damit einhergehenden Sozialabbau, der die Verarmung ganzer demographischer Gruppen und lokaler Regionen (Schrumpfungsprozessen) zur Folge hat, ist eine Umkehr im Wachstums- und Verteilungssystem notwendig. Dieser Wendepunkt wird nicht im Produktionsprozess stattfinden, sondern im Reproduktionsprozess und zunächst in den großen Städten. Hier ist die Komplexität der Gesellschaft sichtbar, sowohl in den Grenzen, als auch in den auf der Hand liegenden Forderungen, Zugang zu den öffentlichen Räumen, zur Bildung, zu Freizeitmöglichkeiten, Zugang zu preiswerten Wohnungen, Aneignung leerer Räume für alle die, die heraustreten auf die Straße und ihr Leben selber in die Hand nehmen, die Forderung nach demokratischen Verfahren in der Planung, nach einem „Bürgerhaushalt“, nach Partizipationsprozessen.
Obwohl sich die Widersprüche zuspitzen, die Stadt hat in diesem Konflikt auch ein ungeheures Potential zu Tage gebracht. Und Berlin als alte Frontstadt im Kalten Krieg hat vielleicht in dieser Tradition eine besondere Rolle. Es macht keinen Sinn, in den öffentlichen Haushalten weiter zu sparen, wenn die Verschuldung gleichzeitig zunimmt. Der Zugang zum Wohnungsmarkt im preiswerten Segment wird trotz Leerstand nicht erleichtert. Der Zugang zu kostenlosen Kultur- und Freizeiteinrichtungen wird erschwert, weil die Preise durch Privatisierung steigen. Der Abstieg in materiell ärmere Verhältnisse nimmt zu und durch Stigmatisierung der Armut auch die Ausgrenzung auch. In Berlin ist z. B. durch die Privatisierung der Berliner Bäderbetriebe der über Jahrzehnte gewachsenen Tradition der öffentlichen Schwimm- und Badeanstalten ein Ende gesetzt worden. Sie sind privatisiert, aber die Stadt ist Miteigentümerin und subventioniert weiter, könnte also Kontrolle und Mitsprache haben. Die Preise steigen, die Bäder schließen, der Zugang für ganze Bevölkerungsgruppen wird erschwert.
Die Probleme und Widersprüche haben ein Maß erreicht, an dem die historischen Wahrheiten nicht mehr aufzuhalten sind. Die Chance liegt in neuen Bündnissen. Zahlreiche Initiativen kämpfen um Einzelinteressen. Im Rahmen des „Klinkenputzens“ findet eine Entsolidarisierung statt. Aber die Stadt ist der Zusammenhang, in dem die Solidarisierung und die Formen des Zivilen Ungehorsams auch Massen ergreifen kann.
Ob die Lokale Agenda, zahlreiche Bürgerinitiativen oder attac, alle leisten einen einzelnen Beitrag, aber eine Vernetzung ist nötig, um Macht zu gewinnen und ein Verhandlungspartner bei der Verteilung öffentlicher Gelder zu werden. Gerade für diesen Prozess müssen die Mechanismen der Geld- und Wirtschaftskreisläufe transparent gemacht und hinsichtlich ihrer moralischen Folgen bewertet werden. Berlin gilt international als „unterbewertet“ auf dem Immobilienmarkt. Durch den Mauerverlauf sind Stadtrandlagen wie Kreuzberg in die Innenstadt gerutscht. So haben wir in Berlin die einmalige Situation, dass fast ein kompletter Ring aus sog. sozialen Brennpunkten in der Innenstadt angesiedelt ist, von Kreuzberg über Neukölln nach Moabit und Wedding. Aber gerade hier liegt auch die Chance: Es gilt, etwas zu verteidigen und mit dem historischen Selbstbewusstsein Zukunft zu gestalten, die alltäglichen Fragen gemeinsam zu stellen. Warum soll ich aus meiner Wohnung, weil eine dänische Bank hier mehr Geld verdienen möchte? Warum bin ich ein Bittsteller im JobCenter, obwohl definitiv die bezahlte Arbeit nicht mehr für Alle reicht? Warum soll ich in immer zugespitztere Konkurrenz zu meinem Nachbarn gehen, nur um mit einem 1-Euro-Job reguläre Arbeitsplätze zu vernichten? Nein, das ist nicht nur mein Problem, hier stimmt das Organisationsprinzip nicht mehr.
Natürlich geht es auch um Macht, den Einfluss und den Zugang zu den Entscheidungen. Dieser wird nicht über das Verhandeln, sondern zunächst einmal unter dem Druck der Massen entstehen, um dann fair zu verhandeln. Unter diesem Aspekt hat das Schlagwort „Global denken, lokal handeln“ noch einmal eine neue Bedeutung. Nur wer sich in seinem persönlichen Lebensraum ob seiner persönlichen Werte und Anschauungen durchsetzen kann, verschafft sich die Kompetenz, globale Zusammenhänge neu zu gestalten. Darum muss der Zugang zur Bildung, zur Kultur, zur Freizeitangeboten, zum öffentlichen Raum thematisiert und erkämpft werden. Die Frage nach dem Umgang mit Armut darf keine persönliche Frage bleiben.
Und genau hier hat Berlin etwas zu verteidigen. Die Akteure des gesellschaftlichen Handelns sind hier noch dicht beieinander und darum auch in der Lage, zu lernen. Berlin gilt als „entspannt“, eben weil sich das Konkurrenzprinzip des Kapitals noch nicht in allen Ritzen breit gemacht hat. Aber es bedarf einer Vernetzung aller Initiativen und sozialen Bewegungen, einer Solidarisierung und einer Politisierung, um nicht nur Beiwerk in der Gentrifizierung zu werden, sondern ein ernster Faktor, um die Durchsetzung emanzipatorischer Ansprüche, der Demokratisierung von Macht als Massenbewegung und alltägliches Prinzip durchzusetzen. Das hat bereits begonnen, wenn z. B. bei Privatisierung Volksbegehren initiiert werden, Mieter sich wehren, HartzIV-Empfänger sich gegenseitig beraten u. v. a. mehr. Aber die jeweils lokalen Ziele brauchen noch einen gesellschaftlichen Kontext, in dem die Proteste eine neue Stufe erreichen, indem zusammenwächst, was nicht getrennt gesehen werden darf. Wer glaubt, er könne sein kleines Ziel als Erster durchsetzen, hat das neue Prinzip der Organisation von Gesellschaft noch nicht erreicht. Keiner wird es allein schaffen. Aber gerade die Stadt bietet die Chance, komplexe Zusammenhänge persönlich erfahrbar zu machen und Alternativen zu leben, um im Kampf miteinander neu zu erfahren, wie zufrieden man sich und alle anderen leben lassen kann…
Die Stadt gehört ihren Bewohnern. Dem Kapitalprinzip kann etwas entgegengesetzt werden – der aufrechte Gang der Solidarisierung, mit Deinem Nachbarn und den Menschen in aller Welt.
Karin Baumert