Planungsterroristin Junge-Reyer stellt sich


Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) ist überraschend zurückgetreten. Sie zieht damit die Konsequenz aus der Politik des Berliner Senats. Ihr Parteiaustritt sorgt für zusätzliche Unruhe.

In den letzten Jahren hatten sich vereinzelte Brennpunkte zu einem Flächenbrand ausgeweitet. Überall in der Stadt waren neue Brandherde entstanden. Ein Blick auf die Karte lässt das tatsächliche Ausmaß allenfalls für Teile der Stadt leise erahnen. Eine vollständige Darstellung gilt auch unter activists noch immer als unleistbar.

Die demokratische Legitimation für die Politik des Ausverkaufs der Stadtplanung war zuletzt auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Die Selbstherrlichkeit des Senats und seiner für Planungsterror zuständigen Repräsentantin Junge-Reyer wurde in zahllosen Publikationen – von rechts bis links bis undogmatisch – immer wieder ausführlich dargestellt, mit Pokalen für Ignoranz ausgezeichnet und vereinzelt gar mit multiplen Mordphantasien beantwortet. Stadt- und Verkehrsplanung waren in den vergangenen Jahren nahezu vollständig der Baumafia und ihren angeschlossenen Funkhäusern überlassen worden. Obwohl selbst die von Amts wegen bestellten Experten vermehrt zu der Einsicht rieten, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen stärker zu berücksichtigen, wurde weiterhin nur Politik für Besserverdienende und im Interesse der „Vermarktung des Standortes“ betrieben. Alternative Ansätze wurden und werden überall in der Stadt bereits im Keim erstickt. Als Richtschnur gilt dabei: Je unkommerzieller ausgerichtet, desto schneller muss es getötet werden.

SPD, CDU und FDP trauten dem Diktat des Kapitals heilende Kräfte zu. Da auch Linke und Grüne dem Treiben wohlwollend oder müde gegenüberstanden, die Linken dem Mythos Arbeit verfallen waren und zusammen mit den Grünen – auf deren Weg ins „neue Bürgertum“ (Zitat: Renate Künast) – den Anschluss an die tatsächlich Grünen und tatsächlich Linken und die tatsächlich Undogmatischen lange schon eingebüßt hatten, entstand ein politisches Vakuum. Auch den Linken unter den Grünen und den Nichtbürgerlichen unter den Linken hatten Kraft und Mut gefehlt, den von Bertelsmann, Neue Soziale Marktwirtschaft und Co beherrschten Think Tanks etwas entgegenzusetzen.

Der jüngste und ausführlichste Beleg für die Selbstaufgabe emanzipatorischer Grundsätze ist – auf regionaler Ebene – das anti-visionäre Handeln im Sonderausschuss zu Mediaspree, wo Grüne und Linke die Mehrheit haben. In allen Berliner Bezirken zeichnet sich ein ähnliches Bild. Grüne und Linke sind schon längst nicht mehr die erhoffte Alternative und regierend nicht einmal mehr das geringere Übel. Wer das nicht glauben mag oder dies für eine verfehlte Analyse hält, der möge sich – wie ich oder Andere von uns, die das schon mitgemacht haben – zur Überprüfung einmal eine Weile den Protagonisten in der Eigenwelt der Parteien aussetzen und deren Denken und Handeln dabei genauer kennenlernen.

Was nutzt uns guter Kinderglaube, wenn die Wahrheit nun einmal ganz anders aussieht. Was bzw. wer nicht einmal auf Bezirksebene noch Hoffnungen auf soziale Vernunft zulässt – spätestens ab dem Zeitpunkt, wo Mitregieren angesagt ist –  kann auf Landes- und Bundesebene allemal keine glaubwürdige Alternative bieten. Die bestehende Parteiendemokratie hat sich überlebt. Sie ist innerlich verrottet. Eine kulturell und ideologisch banalisierte Öffentlichkeit befeuert und reproduziert sie dennoch ohne Unterlass.

Gut, dass wenigstens unsere neugeborene Parteilose dies begriffen hat. Wir wünschen der altgedienten Planungsterrorgenossin Ingeborg Junge-Reyer alles erdenklich Gute in ihrem neuen Amt als Friedhofsgärtnerin auf dem Zentralfriedhof Tempelhofer Feld.

Lang lebe Ingeborg!

Ostprinzessin


4 Antworten zu “Planungsterroristin Junge-Reyer stellt sich”

  1. „Recht auf Stadt“ (Lefebvre)
    „Stadt ist verdichtete Unterschiedlichkeit“ (Simmel)

    http://www.konkret-verlage.de/kvv/txt.php?text=a2

    „Die Kämpfe um urbane Räume werden noch lange weitergehen“

    Diese Einschätzung der Kulturarbeiter Christoph Schäfer („Park Fiction“) und Rocko Schamoni („Dorfpunks“) in KONKRET 8/09 – nach dem Schanzenfest am 4. Juli – hat sich schneller bewahrheitet als erwartet: Seit August ist das Gängeviertel in der Hamburger Innenstadt von Künstlern besetzt, in St. Pauli regt sich Widerstand der Anwohner gegen das geplante „Bernhard-Nocht-Quartier“ und auch das zweite Schanzenfest am 12. September endete damit, daß Wasserwerfer die Straße von Feiernden freispritzten. Wenn sich dieser Polizeieinsatz auch anders gestaltete als der von Schäfer und Schamoni geschilderte (Genaueres dazu entnehmen Sie bitte den einschlägigen Szenemedien), bleibt ihre Beurteilung von Krawall, Gentrifizierung und Latte-Macchiato-Kultur dennoch aktuell.

    KONKRET: Wie würdet ihr als alteingesessene Hamburger die Schanzenrandale bewerten: War das ein Freizeitspaß unpolitischer Jugendlicher, oder um was geht es bei diesen Auseinandersetzungen?

    Schamoni: Es gibt zwar das Stichwort „Randaletourismus“, und der hat wohl durchaus auch stattgefunden. Aber alles in allem waren die meisten Polizeieinsätze, die ich mitbekommen habe, eher anlaßlos, fast ausgedacht. Die sind beispielsweise frontal mit drei Mannschaftswagen in die Bartelstraße rein mit 40 km/h und haben die Wasserwerfer angeschmissen, und die Straße war voll mit Leuten, die zu Reggaemusik getanzt haben. Es gab keinen erkennbaren Grund, daß da irgend jemand irgend etwas gemacht hätte. Es waren lediglich 300 Meter weiter zwei Umzugskartons angezündet worden, die eine Brenndauer von drei Minuten hatten. Ich weiß auch nicht, was da in Polizeikreisen hinter den Fronten besprochen wird. Es ist doch auch klar, daß irgendwann Flaschen fliegen, wenn Hundertschaften stundenlang neben einer Konzertbühne stehen, auf der Punkbands spielen – das war eine eindeutige Provokation. Wenn sie da nicht stehen, kann es zu solchen Ausbrüchen gar nicht erst kommen. Das heißt, daß es einen Bedarf dafür gibt. Als wenn man jetzt mal den Einsatz im großen Stil proben würde.

    KONKRET: Aber welches Interesse steckt dahinter?

    Schäfer: In der Handels- und Immobilienpresse wird ja deutlich ausgesprochen, daß Hamburg ein toller Ort zum Investieren sei, weil man es geschafft hat, die Problemviertel ruhigzustellen. Insofern kann ich mir vorstellen, daß die das, was seit 20 Jahren als Projekt „Erweiterte Innenstadt“ konzipiert ist, jetzt durchziehen, also Ruhe reinkriegen und zeigen wollen, wer der Herr im Haus ist.

    Für die Immobilienpreise sind Krawalle aber nicht das richtige Signal, oder?

    Schäfer: Ich glaube, die haben nicht erwartet, daß ihnen das aus dem Ruder läuft.

    Schamoni: Ich glaube auch, daß damit gezeigt werden soll, daß jetzt mit hartem Besen gefegt wird, damit keiner auf die Idee kommt, daß in diesem Viertel künftig die Klientel geduldet wird, die dort ausgekehrt werden soll. Das sind Signale, die es auch bei den letzten Schanzenfesten gab – bei diesem jetzt besonders stark, das war wohl der größte Randale-Einsatz, den es da in den letzten Jahren gegeben hat -,und die auf diese Kehrauspolitik verweisen. Ein Zeichen an alle, die da mal gewohnt haben: Ihr habt nicht mehr das Hoheitsrecht. Man braucht eigentlich nur noch die nächsten zehn Jahre ordentlich durchzufegen, dann ist die Lage einwandfrei.

    KONKRET: Trotzdem regt sich immer noch Widerstand; es gibt Demos, brave Bürgerinitiativen, teils auch militante Aktionen, und auch das Schanzenfest ist ja ein Teil davon. Ist der Kampf schon verloren?

    Schäfer: Gentrifizierung wird in jedem Viertel anders durchgesetzt. In St. Pauli Süd, wo wir hauptsächlich aktiv sind, läuft es nicht nach dem klassischen Modell, sondern man reißt eine Brauerei ab und setzt drei Bürotürme mittenrein. Das ist ein extrem brutaler Vorgang. „Gentrifizierung“ meint eigentlich einen allmählichenProzeß: Es ändert sich der Habitus, es ändert sich die Kultur, man sieht das erste teure Auto durch die Straßen fahren. Dieser allmähliche Prozeß, der in der Schanze über Jahre hinweg lief, den hat man in St. Pauli Süd schlagartig. Die haben hier Immobilienwerte geschaffen, und die erzeugen jetzt eine Dynamik, die für mich eher Überrumplung ist.

    Schamoni: Ein Kriegseinsatz.

    Schäfer: Gentrifizierung ist in diesen Bereichen ja nur deshalb möglich, weil in Hamburg ein enormer Wohnungsmangel herrscht, weil es fast keinen Sozialwohnungsbau mehr gibt. Deshalb ist es ja zur Krise in städtischen Räumen gekommen. Davon ist Gentrifizierung ein Aspekt. Ein anderer ist die Überwachung, die damit einhergeht, wo für jeden Platz ein eigenes Sicherheitskonzept gestrickt wird. Auch sehr zielgenau: An dieser Stelle dürft ihr euch noch auskotzen, im nächsten Viertel ist genau das unerwünscht, wenn hier jemand laut wird, rufen wir sofort die Polizei. Das kann man hier fast nach Straßenzügen sortieren, wie ein bestimmtes Verhalten motiviert und ein anderes Verhalten eingedämmt werden soll – mit allen möglichen Mitteln, mit feinen und repressiven gleichzeitig. Und der Hintergrund ist die Immobilienaufwertung und die Standortpolitik.

    Schamoni: Ob die Schanze noch zu retten ist? Ich glaube, die war schon vor Jahren verloren, und trotzdem darf man in Momenten wie diesem, in denen jetzt zum Beispiel dieses große Hotel im Schanzenpark steht und McDonald’s in den Schanzenbahnhof gezogen ist, seine Haltung nicht aufgeben. Widerstand muß immer praktiziert werden.

    KONKRET: Zu den Versuchen, der Umstrukturierung etwas entgegenzusetzen, gehört euer Projekt „Park Fiction“ in St. Pauli. Worum geht es dabei?

    Schäfer: „Park Fiction“ war der geglückte Versuch, sich von verschiedenen Initiativen, Einzelpersonen, Läden und Einrichtungen aus hier im Stadtteil dagegen zu wehren, daß das letzte Stück Elbblick verkauft und zugebaut wird. Statt dessen haben wir einen öffentlichen Park entwickelt – nicht nur gefordert, sondern sofort einen Planungsprozeß begonnen und eine kollektive Wunschproduktion in Gang gebracht.

    Schamoni: Es war praktisch schon beschlossen, das letzte Stück Durchsicht auf die Elbe komplett zuzubauen. Daraufhin hat die Initiative gesagt: Wir lassen uns hier an dieser Stelle den Blick, die Luft und das Licht nicht nehmen.

    Schäfer: Was hier super funktioniert hat, und was auch weiter für die Kämpfe gegen Gentrifizierung wichtig ist, ist, daß sich die verschiedenen Beteiligten gegenseitig schlauer gemacht haben, also die Musikszene, die linke Subkultur, die Hausbesetzerszene, Institutionen vor Ort, Anwohner, Kunst und Politik. Man hat geguckt, wo man zusammenarbeiten kann, ohne das bis ins Detail ideologisch oder geschmacklich abzuklären. Dadurch hat man viele Felder zu Verfügung, auf denen man agieren kann. Das Problem ist nur, daß die andere Seite inzwischen gelernt hat, und unsere Vorgehensweise, Kunst und Subkultur mit ins Spiel zu bringen, jetzt als stadtplanerische Tools verwendet werden.

    Schamoni: Dem kann man nie entfliehen, das ist klar. Die gucken sich das ab, weil sie genau wissen, was erwartet wird.

    KONKRET Im Kapitalismus ist eben so ziemlich alles integrierbar, selbst Ereignisse wie die Schanzenrandale, die ja auch schon einen gewissen Folklorecharakter hat. Da sitzen die Leute nebenan in den Cafés und denken: Wow, geile Show. Ist unter solchen Voraussetzungen überhaupt etwas anderes denkbar als ein Abwehrkampf, eine gewisse Schadensbegrenzung, oder hat dieser Widerstand das Potential zu einer weitergehenden Gesellschaftskritik?

    Schamoni: Das gehört immer zusammen. In dem Fall, wo du dich für deinen Nächsten und dein Viertel und deine Stadt einsetzt, trittst du natürlich auch für deine Vorstellung von „Gesellschaft“ ein. Ich glaube, daß der Kampf – abgesehen von revolutionären Phantasien, die es ja immer noch gibt – tatsächlich an solchen Ecken und Fronten konkret wird.

    Schäfer: Diese Kämpfe um urbane Räume sind zentral und werden noch sehr lange weitergehen, weil Städte wieder eine zentrale Funktion im Kapitalismus haben. Sie sind wieder zu einem zentralen Produktionsfaktor geworden. Man dachte eine Zeitlang, wir lagern die ganzen Büros und Verwaltungen auf die grüne Wiese aus, die Leute sitzen eh nur am Rechner, und die Fabriken schaffen wir in die Dritte Welt. Da war die Stadt nicht mehr das Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung. Jetzt ist sie es aber wieder. Und nun kommen auch Leute aus Kunst und Subkultur wieder ins Spiel, weil die Etablierung von Lebensstilen, also das erfinderische Moment darin, ein wichtiger Punkt in der Wertschöpfungskette geworden ist.

    Schamoni: Man braucht uns, willst du damit sagen, als Rammbock?

    Schäfer: Ja, aber das ist widersprüchlich. Die Stadt ist unsere Fabrik, und wir sind die Arbeiter. Vor hundert Jahren waren es die Industriearbeiter, und heute gehören auch Künstler zu den Leuten, die Mehrwert erzeugen und nicht nur am Überbau schrauben. Und daher ist man auch in so einer unsicheren Position, wo man bei jedem Projekt überlegt: Lassen wir uns vor diesen Karren spannen, liegt das in der Logik der Standortpolitik oder vielleicht quer dazu? Es geht uns um einen anderen Kulturbegriff, Subkulturen funktionieren als Plattformen des Austauschs. Und das kann schnell vom einen ins andere kippen.

    Schamoni: Das hat eben auch eine gewisse Attraktivität. Der Tourismus um die Hafenstraße, den es seit den achtziger Jahren gibt, ist das beste Beispiel dafür. Stadtführer erklären tatsächlich, was die Hafenstraße ist, und Leute kommen nicht nur aus Niedersachsen und gucken sich das an. So ist es auch mit uns. Das ist ein sonderbares Gefühl, wenn man sich Gedanken darüber macht, wie man eine Stadt oder Stadtteile retten kann. Bei dieser Arbeit ist man immer auch attraktiv für genau diejenigen, gegen die man kämpft. Sie brauchen einen. Das ist das Schlimme daran. Der Park hier dient eben auch in deren Sinne einer Aufwertung des Viertels.

    Schäfer: Vor allem, wenn man bedenkt, daß Sachen, die wir eher subversiv fanden, schließlich aus der Planung rausfielen. Das war ja auch nicht ganz zufällig.

    KONKRET: Zum Beispiel?

    Schäfer: Wir wollten etwa ein aufgeständertes Archiv über die Entstehungsgeschichte des Parks haben, das über dem Park schweben sollte. Das war nicht durchzusetzen, obwohl die Finanzierung schon geklärt war. Es wäre ein Symbol gewesen: Hallo! Hier hat ein widerständiger Prozeß stattgefunden.

    Schamoni: Auch der Seeräuberinnenbrunnen ist ja letztlich geplatzt. Da war oben auf der Verkehrsinsel ein Brunnen geplant …

    Schäfer: … Anne Bonny und Mary Read sollten da stehen. Das wäre klasse gewesen, jetzt, wo sich die Piratendebatte auf allen Ebenen der Gesellschaft aktualisiert, ein schönes Symbol. Aufwertung ist ein Begriff, der so neutral tut, aber es ist durch die Initiativen objektiv ein Mehrwert geschaffen worden. Und im Kapitalismus ist es nun mal so, daß sich jemand anderer diesen Mehrwert aneignet und ich dann immer noch nicht reich bin.

    KONKRET: An den Stadtteilbewegungen gibt es eine Kritik, der zufolge das Ganze eher eine „Unser-Kiez-soll-schöner-werden“-Bewegung sei, fast schon eine Art Heimatschutz. Im Bezirk Prenzlauer Berg in Berlin klebt die Szene Plakate, auf denen sinngemäß „Schwaben raus!“ gefordert wird. Das alles kann eben auch reaktionäre Tendenzen haben.

    Schamoni: Ich halte diese Kritik durchaus für berechtigt, bin aber dennoch schon lange davon weg – weil mir angesichts unserer Aktivitäten gar nichts anderes übrigbleibt.

    Schäfer: Die Kritik der Gentrifizierungskritik hat einen problematischen Stadtbegriff. Bei „Es regnet Kaviar“ beziehen wir uns, wie auch andere Gruppen in Berlin, Hamburg oder auch in Istanbul und New York, auf Lefebvres Begriff „Recht auf Stadt“. Der hatte von Georg Simmel die Definition „Stadt ist verdichtete Unterschiedlichkeit“ übernommen. Damit kriegt man ein Kriterium an die Hand: Was ist Unterschiedlichkeit und was gefährdet sie, wo wird sie gefördert und wo wird sie verhindert. Wenn ich mir das Brauereiquartier in St. Pauli angucke, würde ich sagen, das, was da jetzt steht, könnte überall auf der Welt stehen. Die Unterschiedlichkeit, die St. Pauli ausmacht(e), liegt darin, daß diese Gegend ein offenes, ein Einwandererviertel mit Räumen ist, wo Illegale auch mal untertauchen können. Das war über 150 Jahre so, und das ist akut gefährdet. Wenn das jetzt gesäubert wird und ein multinationaler Konzern hier eine Filiale plaziert, trägt das zur Unterschiedlichkeit nicht viel bei.

    Der andere Begriff, der bei Lefebvre, im Marxismus und in der Kunst eine wichtige Rolle spielt, ist der Begriff der Aneignung. Auch da würde ich sagen, daß ein kleiner Laden, eine Kneipe, um die ein kleines soziales Netz existiert, etwas anderes ist als so eine Franchisefiliale, in die man Leute reinstellt, die in ein bestimmtes Marketingkonzept passen. So etwas muß es halt an einigen Ecken der Stadt geben, aber das ist doch keine emanzipatorische Vision einer Stadt. Dagegen zu sein, ist doch kein Heimatschutz. Wobei ich bei der Diskussion um McDonald’s ein bißchen anderer Meinung bin. Es gab zwei auf der Reeperbahn, jetzt gibt es nur noch einen. Das hat überhaupt nichts verändert, so was gehört einfach hierher. Und McDonald’s in der Schanze: Ich würde das nicht überbewerten.

    Diese „Heimatschutz“-, diese rechte Ideologie bezieht sich immer auf Eigentümlichkeiten, also auf die „Wurzel“, das „Natürliche“, das „Gewachsene“. Das ist eine problematische Argumentation, während die Idee der Unterschiedlichkeit mit der Anwesenheit des Fremden zu tun hat oder damit, ob eine Stadt langweilig oder nicht langweilig ist. Die Schanze zum Beispiel wird ja „deutscher“, St. Pauli auch, wo ehemals 40 Prozent der Bewohner keinen deutschen Paß hatten (1995), haben heute nur noch 20 Prozent keinen.

    Wo wird diese Heimatschutz-Debatte denn eigentlich geführt?

    KONKRET: Das ist vor allem ein Berliner Phänomen – wobei man manchmal den Verdacht haben kann, daß da einige Leute bloß ihre „Latte-Macchiato-Kultur“ verteidigen wollen.

    Schäfer: Dieser Begriff der Latte-Macchiatisierung ist sehr interessant. Einerseits hat sich das natürlich relativiert, seit jeder mit so ’nem Pappbecher in der Hand rumrennt. Andererseits finde ich den Begriff gut, weil er symbolisch ist. In dem Moment, als die Leute anfingen, mit dem Pappbecher in der Hand durch die Straße zu gehen, hat sich die Art und Weise verändert, in der man die Stadt benutzt. Das hat in diesen schicken neuen Zonen etwas von einem Berechtigungsschein: Du konsumierst im öffentlichen Raum, du darfst da sein.

    Schamoni: Das ist bemitleidenswert – wenn du diesen Berechtigungsschein brauchst, um daraus das Gefühl zu ziehen, du darfst da sein. Grauenvoll. Dieser Berechtigungsschein gilt auch nicht für alle. Wer da nicht sein soll, kann ihn sich zum einen nicht leisten, und selbst wenn er ihn hat, wird er nach dem Austrinken sofort entfernt. Ich habe das neulich gerade am schicken Neuen Wall in der Innenstadt erlebt, da wollte mir einer die Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt“ verkaufen. Sofort kam da so ein Quartiersmanager oder wie diese Hausmeister mit Gummiknüppel jetzt heißen und hat den des Platzes verwiesen. Ich hab gesagt, er soll warten, bis ich die Zeitung gekauft habe, aber der wollte den sofort da weg haben. Ich bin laut geworden, da mußten wir dann beide das Gelände verlassen. Da hätte ich noch so viele Latte Macchiati dabeihaben können.

    Schäfer: Neuer Wall, das ist ja auch so ein „business improvement district“, wo die Stadt das Hausrecht an Geschäftsleute übertragen hat – eine verschärfte Form der Gentrifizierung. Die haben das Areal auch umgestaltet und einen schicken Bodenbelag verlegt, der signalisiert: Du gehörst hier nicht hin, wenn du nicht die passenden Schuhe dafür anhast.

    Schamoni: Wie schnell das geht, wie eine gesamte Kultur ausgetauscht wird, Block für Block. Man kriegt mit, wie innerhalb weniger Jahre eine ganze Realität komplett ausgewechselt wird. Es wundert mich, daß das so einfach funktioniert und daß keiner was tut. Es wird auch gar nicht angekündigt, und man fragt sich, wer das wo ausdealt und wie da eigentlich die Rechtslage ist. Ich wußte bis vor kurzem nicht mal, daß der Platz, an dem ich wohne, inzwischen auch privatisiert ist, wo also das ganze Wegerecht nicht mehr in öffentlicher Hand, sondern bei den Besitzern oder Pächtern liegt.

    Schäfer: Das ist beim Nobelstadtteil Hafencity ganz ähnlich. Das Areal gehört zwar der Stadt, aber das Platzrecht hat die Hafencity GmbH.

    Schamoni: Wobei ich mich frage: Ist die Hafencity nicht die Lösung für uns? Ist das nicht das, was wir immer wollten? Wir brauchen so einen Magneten, so einen Arschlochmagneten. Das Gelände ist groß genug, um einen großen Teil dieser Arschlöcher dorthin auszulagern; diesen Leuten ist es in der Gegend, wo wir befürchten, daß sie uns plattmachen, auf Dauer doch sowieso nicht wirklich angenehm. Da ist immer noch Kotze vor der Tür oder Hundescheiße. Wenn die Hafencity fertig ist, können die da alle rüberziehen, da passen wirklich Zehntausende von denen rein. Wir kriegen unsere Paläste hier, und die haben ihre wunderbaren Hütten da drüben.

    Informationen über aktuelle Entwicklungen in Hamburg finden sich unter http://www.esregnetkaviar.de, http://www.pudel.com, http://www.parkfiction.org, http://gaengeviertel.info und http://www.nobnq.org

    – Interview: Svenna Triebler, Timo Kühn, Larissa Böhm –

  2. „Es darf in Berlin keine No-go-Areas geben, auch nicht für Porsche-Fahrer. (…) Es sind unsere Wähler, die in diese Viertel ziehen und sie nach oben bringen.“

    Volker Ratzmann – Fraktionschef der GRÜNEN im Abgeordnetenhaus

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