Sie brüllt, sie rauscht, sie stampft. Die Weihnachtsmaschine läuft auf Hochtouren. Ob Media- oder Weihnachtsmärkte, ob Abendschau oder Musikantenstadl – überall ist „Weihnachtsstimmung“ oberste Pflicht. Es gehört dabei zu den alljährlichen Ritualen, dass sich die Würdenträger ganz besonders nachdenklich geben. Pfarrer und Bischöfinnen erinnern dann mit bedächtiger Mine an den wahren Sinn des Festes, bei dem es darum gehe, dass der Gottessohn auf die Erde geschickt wurde, um den Menschen Nächstenliebe zu predigen, damit „Friede auf Erden“ sei, wie die Engelschöre den Hirten in der Weihnachtsnacht verkündeten. Ähnlich rituell sind die Salbadereien von Politikern jeglicher Couleur, deren Texter angehalten sind, etwas zusammenzuschreiben, das einerseits ruhig und erhaben und andererseits auch ein bisschen mutmachend klingt. So wies Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Beispiel in einem Text für „Die Zeit“ zu Weihnachten 2010 auf „die Verletzlichkeit des Menschen“ hin, der dennoch in der Lage sei, „Dinge zum besseren zu wenden“. Nächstenliebe, Solidarität und ganz besonders Wertvorstellungen seien das „Fundament des Zusammenhalts“ in der Gesellschaft, was ja irgendwie auch mit der Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem zu tun habe.
Zu den Ritualen gehört bei vielen auch die besinnliche Weihnachtsvöllerei. Der übertriebene Konsum wird dabei begleitet von den alljährlichen Ratgebern in Fernsehen und Zeitschriften, wie denn das zugelegte Gewicht möglichst schnell wieder abgespeckt werden kann. Man kann annehmen, dass ein ebenso übertriebener, großer Teil der zum Fest gekauften und bereitgestellten Lebensmittel hernach bedenkenlos auf den Müll geschmissen wird. Dies ist naheliegend, denn diese Art von Umgang mit einwandfreien Lebensmitteln ist in Deutschland und Europa keine weihnachtliche Besonderheit, sondern eingefahrene Normalität. Die Welthungerhilfe berichtet, dass allein in Deutschland jährlich 20 Millionen Tonnen einwandfreier Lebensmittel auf der Müllkippe oder in der Biogasanlage landen. Diese stammen nicht nur aus den Haushalten, die zuviel und zu unbedacht einkaufen. Sie stammen auch aus den Supermärkten und Großmärkten, die den „Verbrauchern“ immer penibelst einwandfreie Ware darbieten wollen, da diese angeblich danach verlangten. Eine Kiste Orangen, in der zwei Früchte überreif sind, wird komplett entsorgt, weil es sich nicht lohnen würde, die zwei Früchte auszusortieren. Verpackte Lebensmittel, Fleisch, Fisch, die nur noch in geringer Stückzahl vorhanden sind, landen im Abfall, weil in den Regalen Platz für neue Ware gebraucht wird. Pro Jahr werden in Deutschland 500.000 Tonnen Brot vernichtet. Dies hat seinen Grund in der verbraucherorientierten Überproduktion: Weil die „Verbraucher“ angeblich noch um 19:30 Uhr im Supermarkt ein Brotregal mit voller Auswahl haben wollen, wird zwischen 10 und 20 Prozent mehr Brot hergestellt, als tatsächlich gebraucht wird. Was in den „zivilisierten“ Ländern im Müll landet, würde – so eine theoretische Rechnung – genügen, um drei Mal alle Hungerleidenden der Welt zu ernähren. Die Gegenüberstellung von Überfluss auf der einen und Hunger auf der anderen Seite der Welt mag etwas abstrakt erscheinen, denn ein übrig gebliebenes Brot in Deutschland nutzt einer Familie in Afrika nichts. Auf den zweiten Blick ist dieser Zusammenhang aber doch nicht so abstrakt. Denn die sinnlose Überproduktion von Brot vergrößert die Nachfrage auf den internationalen Getreidemärkten. Und wo die Nachfrage steigt, steigt auch der Preis. Und hohe Getreidepreise treffen die Armen der Welt konkret, da sie, im Gegensatz zur Bevölkerung reicherer Länder, den größten Teil ihrer Einkünfte für Lebensmittel aufwenden müssen. Für einen mitteleuropäischen Haushalt ist ein erhöhter Weizenpreis keine wahrnehmbare Größe – für eine afrikanische Familie kann er eine Frage auf Leben und Tod sein.
Nicht nur die Verschwendung des wohlhabenderen Teils der Weltbevölkerung trägt zum Hunger der Armen bei. Die Mehrung des Wohlstands auf der einen Seite steht im direkten Zusammenhang mit der Mehrung von Hunger und Armut auf der anderen. Wie dies funktioniert, hat der Finanzjournalist Harald Schumann (Tagesspiegel) in einem umfangreichen Report für die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch herausgearbeitet. Ob milliardenschwere Fonds, Banken oder Kleinanleger – allesamt beteiligen sie sich an der Spekulation mit Rohstoff-Papieren und setzen damit auch auf möglichst steigende Preise von Getreide, Zucker oder Speiseöl. Die Rohstoffbörse bestimmt den Preis, die tatsächlichen Größen von realem Angebot und realer Nachfrage rücken in den Hintergrund. Von 2001 bis 2011 haben sich die Weltmarktpreise der ernährungsrelevanten Rohstoffe teilweise mehr als verdoppelt. Der Welthungerindex 2011 benennt die Ausweitung von Warentermingeschäften mit Agrargütern neben der Verwendung von Agrarprodukten zur Treibstoffherstellung und durch den Klimawandel hervorgerufene extreme Wetterereignisse als Hauptursache für höhere Lebensmittelpreise und deren starke Schwankung. Arme, hungernde Menschen können weder mit Preisanstiegen mithalten noch sich den starken Preisschwankungen anpassen – sie können höchstens ihre Kalorienzufuhr vermindern und stärker hungern oder im Zweifelsfall auf billigere, minderwertige Lebensmittel zurückgreifen. Beides führt zu Mangel- und Unterernährung, zu Krankheit und Tod. Dass die Preise stark schwanken, ermöglicht Investoren eine höhere Renditechance, was wiederum zu vermehrten Spekulationen führt. Ein Teufelskreis, der die Situation der Ärmsten der Armen in den nächsten Jahren weiter verschärfen wird. Die Kriege der Zukunft mögen um Wasser geführt werden. Die Aufstände der Gegenwart werden aus Hunger geführt. Ob in Haiti oder Indonesien, ob in Bangladesch oder im Jemen – als in den Jahren 2007 und 2008 die Preise für Soja, Reis und Weizen in die Höhe schossen, kam es zu sozialen Unruhen.
Die Spekulation auf Kosten der Ärmsten und ihre gesellschaftlichen Folgen sind längst ein sattsam bekanntes Problem, auch und gerade bei den europäischen Regierungen. Doch die Regierung der von vorgeblich christlichen Wertvorstellungen getragenen Bundeskanzlerin Merkel hat bis heute rein gar nichts unternommen, was diesen Zustand wenigstens entschärfen könnte. Im Gegenteil, die heiligen Märkte werden von der politischen Klasse, geführt durch Finanzmarktlobbyisten und beeinflusst durch „Parteispenden“, nicht angetastet. „Finanzmarktstabilität“ ist Sinn, Zweck und Ziel dieser Politik, der die Folgen ganz egal sind und der Verantwortung fremd ist. Die einfachsten Zusammenhänge werden geleugnet, Probleme in eine ungewisse Zukunft vertagt. Ein schäbiges Verhalten, so menschenverachtend, dass man diesen Leuten wünscht, sie würden einmal in der Haut einer afrikanischen Mutter stecken, der das Kind in den Armen verhungert. Gerade wenn es um Wertvorstellungen geht, sollte man sich, vielleicht nicht nur an Weihnachten, den Satz vor Augen halten, den das Christuskind sagte, als es nicht mehr klein und niedlich, sondern ein ausgewachsener Rebell war: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Benedict Ugarte Chacón
2 Antworten zu “Schlaft in himmlischer Ruh!”
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