Brief ins Gefängnis


Axel, Florian und Oliver sind immer noch in U-Haft. Ich habe ihnen geschrieben. Der Brief ist für mich noch immer eine interessante und in der weiblichen Geschichte wichtige Form, Dinge auf einer anderen Ebene zu verhandeln. Wir sind ja alle auf der Suche nach neuen Formen, die Widerstand, Denken, Kreativität befördern. Lasst es uns unterwandern, das System, den Mainstream, die Normalität. Infos zu Kontakten in den Knast unter: www.knast.net

Hallo Axel, Florian und Oliver,

wir kennen uns nicht. Aber da eine Untersuchungshaft anstrengend ist, dachte ich, ihr würdet euch über einen Brief freuen.

Vielleicht sollte ich etwas zu mir erzählen. Ich bin eigentlich Schauspielerin, aber im Moment ist es schwer, Arbeit zu finden und wenn, dann sind es immer öfter im besten Fall belanglose Sachen. Ich sehe das auch immer, wenn die Leute von den Schauspielschulen kommen, mit vielen Ideen und Engagement und das ist dann für die Tonne (hm vielleicht sollte ich lieber einen positiven Brief schreiben). Es ist eben schwer mit der Kunst. Ab und zu bin ich gewerkschaftlich engagiert. Aktuell planen wir gerade eine Hochschulkampagne für den Bereich Medien, Kunst und Kultur in Berlin. Ich muß gerade lächeln, wenn ich an das letzte Treffen denke, wo ein Kollege aus der Bildenden Kunst sagte, von wegen Freiheit der Kunst. Wahrscheinlich sind wir alle Gefangene (Anspielung auf den Buchtitel von Oskar Maria Graf).

Am Sonntag habe ich eine Lesung aus Romanen von Carson McCullers. Das ist eine meiner Lieblingschriftstellerinnen. Anbei mal ein Programmzettel. Eigentlich wird dieser als Origamifigur gefaltet und ich freue mich schon auf das Publikum, das sich einerseits nicht traut, das Programmblatt zu entfalten, andererseits aber das Programm gerne lesen würde. Wegen der mitlesenden anderweitigen Personen habe ich euch den Zettel jetzt nicht gefaltet. Eine Faltanweisung (Blume, Schwan, Karpfen) liegt bei.

Ja, das ist schon ein wenig bürgerlich mit dem Programmzettel, das muß ich zugeben. Aber selbst auf großen Bühnen ist dieses Phänomen vorhanden. Es ist nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht eher am Beispiel. Vor ein paar Wochen war ich in einem größeren Berliner Theater, das Stück war sogar sehr modern, um nicht zu sagen staatskritisch. Trotzdem war da für mich das Gefühl von Stagnation. Ein paar Tage später war ich im RAW, das Stück war fast wanderbühnenartig aufgezogen, aber der Raum und auch die Zuschauer waren, hm lebendig. Das Stück basierte auf dem Roman von John Kennedy Toole „Ignaz oder die Verschwörung der Idioten“ von 1969. Aber es war total modern. Ich habe noch nie soviel in einem Stück gelacht. Der dicke Ignaz ist sozusagen ein Taugenichts und will nicht arbeiten, er wird von seiner Mutter durchgefüttert. Aber als sie einen Unfall hat, verpflichtet sie Ignaz zur Arbeit und so arbeitet er bei Hosen-Levy und nach seinem Rauswurf, als Würstelverkäufer, in einem Vogelladen, in einem Fischgeschäft usw.. Um Ignaz gruppieren sich die merkwürdigsten Zeitgenossen, die sich meist nicht unterhalten, sondern gegenseitig beschimpfen. Oder sie tun die komischsten Dinge bzw. werden dazu gezwungen. Sämtliche Tätigkeiten werden ironisiert und im Extrem beschrieben. Es ist daher wie eine Art Offenlegung des „Systems Welt“, eine realabsurde Komödie. Z. B. der Polizist Mancuso, der Ignaz zu Beginn des Buches festnehmen will, muss den ganzen Tag in einem Waschsalon nach Verdächtigen Ausschau halten, so lange, bis er es endlich schafft, jemanden zu verhaften. „Verhaften Sie endlich jemand, Mancuso!“, sagt sein Chef. Da der Roman in Amerika, in New Orleans spielt, ist möglicherweise auch die Kommunistenjagd der 50er unter McCarthy mitverarbeitet.

Tja, dann schreibe ich noch ab und an für die Gewerkschaftszeitung und schreibe für einen Blog (www.abriss-berlin.de). Falls ihr Lust habt, würde ich euch einladen, etwas für uns zu schreiben. Wir haben zunächst über Abrisse berichtet, jetzt aber ist es schon eher ein Abriss über Berlin geworden. Wir schreiben über Privatisierungen, Freiräume, Politik und Alternativen. Ich lege mal meine 3 letzten Lieblingsberichte (jedem Brief einen anderen) bei.

Überhaupt schreibe ich viel; das ist für mich wie Reflektieren, Hinschreiben, Nachdenken, Aufschreiben. Auch wenn es Kleinigkeiten sind, Alltagsgeschichten, Sorgen, Probleme oder auch Gefühle.

Heute habe ich zum Beispiel über Gentechnik nachgedacht. Und ich habe gedacht, mit welchem Recht die dort involvierten Konzerne eigentlich die Natur unfruchtbar machen, das nichts mehr einfach so wächst und für alle da ist, sondern gekauft werden muß und immer wieder neu, denn das Saatgut ist steril geworden und läßt sich nur einmal verwenden. Dieses Saatgut, das von vielen Menschen über all die Jahrtausende gepflegt und gezüchtet wurde. Welche Hybris! Und natürlich geschieht all das ohne nennenswertes Nachdenken, nein, es geschieht sogar offiziell.

Ja, jetzt will ich noch was Positives schreiben. Positiv war heute, daß ich mich auf die Wiese am Helmholtzplatz gelegt habe und gar nichts gemacht habe. Es war mir alles egal und ihr werdet lachen, es war ein klasse Gefühl, ziemlich befreiend sogar. Alle Zukunftssorgen waren weg und der Augenblick da. Ich bin in mich hineinversunken (übrigens ein weiterer Vorteil des Schauspielstudiums sind Körper- und Geistestechniken; es sollte an der Schule unterrichtet werden, genauso wie Praktische Ökologie und Medien- und Werbekritik). Es ist schon herbstlich und vorhin war der Fernsehturm vernebelt. Ein schönes Bild, die Wolken um den Turm. Kleinigkeiten, die auffallen, wenn man zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist.

Hier noch eine politisch positive Meldung aus der Linkszeitung:

Mehrheit der Bürger lehnt Sozialpolitik der Regierung ab

Die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger lehnt die Sozialpolitik der Großen Koalition ab. In einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Emnid, im Auftrag der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, erklären 72 Prozent der Befragten, die Regierung müsse mehr für soziale Gerechtigkeit tun, nur 16 Prozent folgen der Regierungspolitik. Nach der Umfrage bezeichnet sich jeder dritte Deutsche als „links“. 34 Prozent sagten, sie seien im politischen Spektrum links zu verorten, 52 Prozent ordnen sich selbst der politischen Mitte zu und nur 11 Prozent der Rechten. Selbst unter CDU-Anhängern sieht sich jeder Vierte als Teil des linken politischen Spektrums. Bei den SPD-Anhängern sehen sich 39 Prozent als „links“, bei der FDP 23 Prozent und bei den Grünen sogar 76 Prozent. Die Umfrage, für die Emnid 1 000 Deutsche interviewte, zeigt eine große Zustimmung zu politischen Forderungen, die vor allem von der Linkspartei vertreten werden: 67 Prozent der Befragten wollen Unternehmen wie die Bahn sowie die Energieversorgung in staatlicher Hand lassen. Vor allem von Anhängern der Volksparteien wird diese Haltung geäußert; von den SPD-Anhängern sind 72 Prozent für Staatsunternehmen, von den Unionswählern immerhin 71 Prozent. 68 Prozent der Befragten sind für die Einführung von Mindestlöhnen. 62 Prozent halten die Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen in Afghanistan für „eher falsch“; 82 Prozent fordern, das gesetzliche Rentenalter wieder von 67 auf 65 Jahre zu senken.

Die Sympathie für linke Positionen schlägt sich auch in einer positiveren Haltung zu den Gewerkschaften nieder. So halten 46 Prozent der Deutschen laut ZEIT-Umfrage die Macht der Gewerkschaften für „eher zu klein“ und nur 43 Prozent für „eher zu groß“. Auf die gleiche Frage hatten 2003 noch 51 Prozent der Befragten geantwortet, sie wünschten sich weniger Gewerkschaftsmacht.

Ich würde mich natürlich freuen, wenn ihr antworten könnt.

Viele Grüße, Malah

Berlin, 31-8-07


Eine Antwort zu “Brief ins Gefängnis”

  1. Nun ist der Brief nicht an mich und ich sitze auch gar nicht in Untersuchungshaft, aber ich heiße immerhin Axel. Deshalb fühle ich mich mal angesprochen.
    Ja ein sehr netter Brief. Aber ich möchte doch etwas anmerken: Die genannten positiven Meldungen sehe ich nicht so positiv. 72% der Bürger fordern also mehr soziale Gerechtigkeit. Eigentlich müßten es ja 100% sein. Denn Gerechtigkeit ist ja das was recht ist. Wie schon der Name sagt. Sie ist also schon per Definition richtig. Dass 28% aber keinen Bedarf sehen zeigt schon, dass unter sozialer Gerechtigkeit dann doch etwas anderes verstanden wird. Allgeimen versteht man darunter, dass man mehr Geld aus der staatlichen Umverteilung bekommt. Das mag ja im Einzelfall berechtigt sein. Aber wenn 72% mehr haben wollen, ist das keine gute Nachricht.
    Ähnlich sehe ich das mit der Rente. Es gibt welche die die Rente bekommen und welche, die die Rente zahlen. Wenn 82% eher Rente bekommen wollen, dann heißt das doch nur, dass die Meisten so früh wie möglich von den Gebenden zu den Nehmenden wechseln wollen. Das kann nicht überraschen. Eine wirklich gute Nachricht ist es aber auch nicht.
    Naja, aber trotzdem ein netter Brief.
    Ich wünsche Dir das Beste.

    Viele Grüße, Axel

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