Mäh macht das Schaf, MAE macht der Manni


Zu Gast in der Welt von Amazing Mae Inc.

von Michaela Trautwein

Verdammt. Die Metro fuhr gerade am Ostkreuz ein, als Manni auf der Plattform die auffällig unauffällig herumlungernden Typen entdeckte: Checker. Ein Ticket hatte Manni natürlich nicht, sowas hätte fast den gesamten Tageslohn aufgefressen, die lächerlichen neun Öre. Also schnell die Tasche umgebunden, ein unbeteiligtes Gesicht aufgesetzt und raus. Manni fasste noch prüfend in die Jackentasche. Die Kapsel war da, eine Micro-Nebelbombe für den äußersten Notfall. Falls die Checker ihn herauspicken würden und sich nicht einfach so abschütteln ließen. Noch einmal erwischt zu werden, ging einfach nicht. Sein finanzielles Notfall-Polster war schon beim letzten Erwischtwerden draufgegangen. Nur nicht dran denken, und los. Die Türen öffneten sich und Manni schwamm in einer Traube von Aussteigenden hinaus in die Kälte, auf die Plattform. Im Vorbeigehen sah er, wie ein Typ seines Alters, mit Rasta-Haaren und quengeligem Kind, von den Checkern abgefangen wurde. Erleichtert ging Manni weiter. Nochmal Glück gehabt. Die Treppen zur oberen Plattform hinaufeilend, fiel ihm auf, wie zynisch dieser Gedanke war – froh zu sein, dass es jemand anders erwischt hatte. Oben fuhr gerade eine Metro ein, also Beeilung. Der Zwischenfall mit den Checkern hieß sowieso schon, dass Manni einen Umweg nehmen musste. Er würde zu spät auf Maßnahme auftauchen.

Die obere Plattform war gerammelt voll mit Wartenden, die nun alle versuchten, in die ohnehin gut bepackte Metro reinzukommen. Da er gerade erst von der Treppe kam, hatte Manni schlechte Karten. Warnton, knallende Türen, und schon setzten sich die Wagen in Bewegung, ohne ihn. Mist. Seltsam, dachte er, dass das Zuspätkommen ihn so beschäftigte. In den Jahren, in denen er jetzt schon ohne Job dastand und stattdessen, wie eine halbe Million anderer in der Stadt, Kohle von der Firma bekam, hatte tagtägliches Frühaufstehen keine Bedeutung gehabt. Dann hatten sie ihm die Maßnahme aufgedrückt, und es war eine krasse Umstellung gewesen. Sein Biorhytmus kam nicht mehr klar. Das Aufstehen morgens klappte zwar so einigermaßen, aber entsprechend auch früher ins Bett zu kommen, das gar nicht. Die Folge waren vier bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht, ein heftiges, ständiges Schlafdefizit. Und wofür? Für schlappe Einsfuffzich pro Stunde, gerade mal neun Öre am Tag? Nein, kein Lohn: Mehraufwandsentschädigung nannte die Firma das. Dafür, den ganzen Tag über völlig fertig sein. Und dann auch noch pünktlich sein wollen: War es einfach Gefügigkeit? Mäh macht das Schaf, MAE macht der Manni. Wo auf Maßnahme doch niemand wirklich pünktliche Anwesenheit kontrollierte. Nur legten die Kollegen, seine Mitgefangenen, einigen Wert darauf, machten Witze darüber, wenn Manni wieder mal zehn Minuten später kam. Als ob das wirklich ’ne Rolle spielte. Naja, es schien für den Zusammenhalt der Gruppe irgendwie ’ne Bedeutung zu haben.

Die ordentlich bezahlten Angestellten der Amazing Mae Inc., die von der Firma für jeden zugewiesenen Joblosen ganz gut Kohle einsackten für das Organisieren verschiedener Maßnahmen, waren nämlich weit weg, schauten nur alle drei, vier Wochen mal vorbei. Wohl, weil sie zufrieden mit der Arbeit der Gruppe waren, Vertrauen in den Ablauf hatten. Von anderen Gruppen hatten sie schon gehört, dass sie täglich morgens melden mussten, wer da war und wer nicht.

Ein Krachen riss Manni aus seinen Gedanken und brachte ihn zurück auf die Plattform. Ein Stück weiter, aber direkt vor seinen Augen, wurde ein Shoppingcenter abgerissen. Das hatte gerade mal zehn Jahre dort gestanden, war aber anscheinend nicht gut gelaufen. Die Bauarbeiter, die hatten wenigstens reguläre Arbeit. Vielleicht sogar mit Sozialabgaben, bezahltem Urlaub und so. Oder waren diese Zeiten auf dem Bau auch schon längst passé? Manni schien es, als gehörten Festangestellte zu einer langsam aussterbenden Spezies. Denn jenseits von gut bezahlten Jobs für Hochqualifizierte wurden reguläre Arbeitsverhältnisse mit allem Drum und Dran immer seltener. Und hießen meist: Stumpfe Büroarbeit. Man konnte sein Leben auch spannender zu Grunde richten.

Endlich kam die nächste Metro. Manni stand nun besser auf der Plattform, zwängte sich in den Wagen. Blieb in der Nähe der Türen, denn er musste eh gleich wieder raus und zur Subway wechseln. Weiter hinten versuchte eine junge Frau, ’ne Obdachlosenzeitung zu verticken, kam aber anscheinend nicht durch das Gedränge des Wagens durch.

Shoppingcenter zu bauen und wieder abzureißen, war das eigentlich auch nur einen Deut sinnvoller als das, was Manni’s Gruppe auf Maßnahme machte? Zu Anfang hatte Manni noch gedacht, es sei okay, Ridermaps für die Schulkids zu basteln. Es war ja auch ganz schön gefährlich, sich mit Bike durch die Stadt zu kämpfen. Es war bestimmt gut, die Kids auf die besonders kritischen Stellen hinzuweisen, vielleicht ergaben sich ja auch sicherere Routen auf Nebenstraßen mit wenig Autoverkehr. Also hatte sich Manni erstmal ’ne Menge Gedanken dazu gemacht, was die Bikelanes so gefährlich macht. Und woran man Lanes und Routen erkennen könnte, die sicherer sind. Aber hatte das jemanden interessiert?

Da war auch schon die nächste Station, raus auf die Plattform, die Treppen runter zur Straße. Vor dem Eingang zur Subway an der Bikelane aufpassen. Diese Lane war so ein Beispiel, ständig liefen Leute drüber, ohne sich umzuschauen. Immer wieder mussten Rider scharf bremsen oder rasselten in Fußgänger rein. Aber für die Ridermap auf Maßnahme wurde die Lane einfach eingetragen, obwohl es auf der Straße vielleicht sicherer zu fahren wäre. Egal – Manni lief weiter und ab in die Subway, vorbei an fliegenden Zigarettenhändlern, die garantiert einen stressigeren Job hatten als Manni und kohlemäßig trotzdem nicht unbedingt besser dastanden.

Diesmal gelang es Manni, gleich in den ersten Zug reinzukommen. Die Screens in der Bahn verkündeten irgendwelchen Promiquatsch, gefolgt von Werbung für einen angeblich vollkommen sicheren neuen Suburb mit direktem Autobahnanschluss. Wer sich sowas wohl leisten konnte? Und wollte? Dann sich vielleicht doch besser mit der Firma arrangieren, gut auf die Kohle acht geben, damit noch ein bisschen was drin war für ’n Konzert oder mal Party. Das Beste draus machen, auch wenn’s nichts Gutes war. So war’s auf Maßnahme letztendlich auch: Da ging’s schon längst nicht mehr darum, ’ne gute Ridermap zu machen, die den Kids half, sondern darum, die Arbeit noch möglichst angenehm zu gestalten. Die von Amazing Mae schien es gar nicht zu interessieren, ob etwas wirklich Brauchbares dabei herauskam. Wie sich Sicherheit und Gefahren für Rider praktisch fassen und in der Map darstellen ließen. Oder sie waren davon schlicht überfordert, sich mehr als alle paar Wochen für ein, zwei Stunden mit der Arbeit der Gruppe auseinanderzusetzen. Hatten immerzu ausweichend reagiert, wenn es mal um Entscheidungen über die Gestaltung der Map ging, dafür aber krampfhaft an dem ursprünglichen, aber mit unbrauchbaren Fragen übersäten Erfassungsbogen für Bikelanes festgehalten. So hatte sich die Gruppe nach und nach damit arrangiert, dass einfach nur irgendeine Ridermap gebastelt werden sollte, vielleicht um der Firma gegenüber was vorweisen zu können. Aber praktischen Sinn musste sie nicht machen. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn die Map nie an irgendwelche Schulen kommen würde, sondern stattdessen in einer Schublade verschwände. Vermissen würde sie sicherlich niemand. Nur seltsam, wenn man für sowas monatelang gearbeitet hatte.

Einerseits war der MAE-Kram totaler Zwang: Wer sich weigerte, eine Maßnahme anzunehmen, dem wurde die Kohle von der Firma gesperrt. Wenn man nichts mehr auf Kante hatte, war das wirklich krass. Manni hatte die Zuweisung der Firma daher als derben Eingriff in seine persönliche Freiheit erfahren. Ein Zwangsdienst wie Armee oder welcher Ersatzdienst auch immer. Diese abhängige Situation wurde dann von einigen Maßnahmenträgern wie der Amazing Mae Inc. gnadenlos ausgenutzt. Denen war es egal, ob die Leute die Maßnahme wollten oder nicht. Sie wurden auch gegen ihren Willen genommen, obwohl sie sie auch hätten ablehnen können. Die Firma war natürlich froh über alle, die dem Druck nicht Stand hielten, eher noch in absoluter Armut lebten oder allermieseste Jobs annahmen, um der Willkür zu entgehen. Und dann, als Manni seinen Jobberater bei der Firma fragte, was ihm die Maßname denn nun von erwerbsperspektivisch bringen solle, hatte der ganz offen geantwortet: Nichts, Hauptsache Sie sind beschäftigt.

Einer Freundin wiederum hatte ein anderer Maßnahmenträger, der im künstlerischen Bereich herumfuhrwerkte, gleich noch ein zweites Vollzeitprojekt aufdrängen wollen. Für keinen Öre mehr natürlich. Die kamen sich dabei noch wie Wohltäter vor und meinten, sie solle als Joblose mal froh sein, überhaupt ’ne Maßnahme abbekommen zu haben.

Andererseits hatte Manni mit seiner Maßnahme auch ein Stück weit Glück im Unglück: Es ergaben sich immerhin Spielräume, mit denen er nicht gerechnet hätte. Solang keine Wichtig-Wichtig-Leute von Amazing Mae Inc. auftauchten, konnten sie sich eine laue Zeit machen: Ausgedehnt und kaffetrinkend im Aufenthaltsraum miteinander quatschen – wenn man sich denn was zu sagen hatte. Ausgedehnte Spaziergänge unternehmen, während der Arbeitszeit allen möglichen privaten Kram erledigen, Computergames auf dem Netzwerk spielen, sich über den Gebrauch freier Software austauschen. Klar, die Gruppe hatte noch außergewöhnlich gute Bedingungen. Anderswo standen MAEler unter ständiger Aufsicht, da wäre sowas natürlich nicht gegangen. Obwohl, dann wären Manni vielleicht die nervigen Seiten der Gruppe erspart geblieben: Wenn die Kollegen beim allmorgendlichen Beisammensitzen im Aufenthaltsraum auf Frauen, Ausländer oder Schwule zu sprechen kamen, hatte er sich am liebsten sofort an den Rechner verdrückt. Natürlich war es immer „witzig“ gemeint gewesen, was sie so sagten. Aber bestimmt nicht Mannis Humor. Irgendwann hatte er begonnen, Musik und Audiobooks mitzubringen: Über Kopfhörer gehört, blendete sich alles um ihn herum aus.

Endlich kam die Subway an der Station an. Immerhin ’ne Viertelstunde zu spät, nur wegen der Checker in der Metro. Manni ging die letzten paar hundert Meter zu der alten Plattenbau-Kita, die sicherlich einige Jahre leergestanden hatte, bevor man die MAE-Gruppen dort untergebracht hatte. Im Gebüsch am Wegesrand wuselte gerade auch so ’ne bunte Truppe herum: Müll auflesen, Grünzeug schnippeln, Boden harken. Alle auf Maßnahme, bis auf eine Person, die vom Fach war und die Motorsense bedienen durfte. Von seiner Gruppe wusste Manni immerhin, dass es allesamt Leute mit Berufsausbildung waren. Nur vielleicht nicht die allererste Sahne auf dem Arbeitsmarkt. Das reichte oft schon, um auf Dauer rauszufallen und früher oder später auf Maßnahme zu landen. Jetzt kam Manni an der Verkehrsschule vorbei, wo die Kids von einem Polizisten und ’nem halben Dutzend Joblosen betreut wurden. Auf Schritt und tritt begegnete man hier MAElern, man musste nur einmal darauf aufmerksam werden.

Klar, die Maßnahmen-Welt war reichlich bescheuert und Manni ärgerte sich darüber, von der Firma dazu gezwungen zu werden: Aber die MAE-Jobs waren bei Vielen erstaunlich begehrt. Schlicht und einfach, weil die normale Joblosen-Kohle für den Lebensunterhalt hinten und vorne nicht reichte, das bisschen MAE-Geld also dringend benötigt wurde. Und immerhin hieß ’ne MAE, meist, wenn auch nicht immer, von noch unangenehmeren Maßnahmen der Firma weitgehend verschont zu werden. Zumindest für sechs Monate. Andererseits: Was hätte Manni alles in sechs Monaten auf die Beine stellen können? Seine Wohnung komplett renovieren vielleicht. Endlich mal Gitarre spielen oder Russisch lernen. Vielleicht ja auch eine Weiterbildung, womöglich eine mit Sinn, aber da war es sehr schwer heranzukommen. Oder mit Freunden ein kleines Unternehmen aufziehen. Obwohl, wie sollte das gehen, ohne Startkapital…, also nicht weiter drüber nachdenken.

Manni erreichte den Eingang der früheren Kita, öffnete die Tür und tauchte ein in die seltsame Welt von Amazing Mae.


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