Ruinen und Brachen im urbanen Raum sind Gebäude und Gebiete, die sich außerhalb funktionierender gesellschaftlicher Struktur befinden. Im Stadtbild sind sie weder vorgesehen noch erwünscht. Es gibt nur eine Lösung: Sie müssen verschwinden. Wie können sie beseitigt werden? Durch Vermarktung an Unternehmen und Personen, die sich davon einen Profit versprechen. Was aber passiert im defizitären Berlin, wenn eine solch herkömmliche Strategie ihre Effekte verfehlt? Versuche der Maskierung werden unternommen: Es entstehen Kulissenbauten, die sich von Weitem nur wenig von schon vorhandenen Rekonstruktionen unterscheiden lassen, oder Bauzäune jeglicher Art werden installiert, damit das Mangelhafte im Verborgenen gehalten werden kann.
Warum müssen solche Orte und Räume abgeschottet werden? Ganz klar, damit die Aufrechterhaltung erprobter gesellschaftlicher Ordnung zumindest dem Anschein nach demonstriert werden kann – quasi ein weiterer Versuch von Wirtschaft und Politik, sich ihren Handlungsweisen, die von der Hoffnung nach Wachstum geleitet sind, zu vergewissern. Allerdings wird durch eine derartige, sinnentleerte Manifestation das Aufschwappen eines Fragenpools im öffentlichen Raum, der sich zum einen mit den Ursachen eines nicht mehr funktionierenden Ortes und zum anderen mit den sich daraus ergebenden Möglichkeiten befassen könnte, konsequent unterbunden.
Absperrungen und negative Konnotationen genügen in den überwiegenden Fällen, um die traditionelle Logik vom Wachstumsdenken bei den BetrachterInnen aufrecht zu erhalten. Auf Grund dessen werden solche Erscheinungen kurzer Hand ignoriert oder aber geradlinig ins Bewusstsein aufgenommen, was zwar bedeutet, dass Ruinen und Brachen im Bild der Stadt als unwillkommene Begebenheiten akzeptiert werden, aber nur verbunden mit der Hoffnung, dass es sich um vorübergehende Erscheinungen handelt, die verschwinden werden, sobald an ihre Stelle (noch)mal wieder etwas gebaut wird. Dieser Denkvorgang lässt sich auch am Selbst abprüfen: JedeR ist schon einmal an einer leeren Stadtfläche vorbei gekommen, die einfach nur verwildert aussah oder auf der sich schon Reste und Müll aller Art stapelte. Was ging Dir dabei durch den Kopf? Mit Bestimmtheit ist der Gedanke in Dir aufgeblitzt, dass da etwas fehlt! Tatsächlich kann angenommen werden, dass sich dort einmal etwas Kultiviertes befand. Der Blick nach Links und Rechts auf die vorhandenen Gebäude und Konstruktionen bekräftigt diesen Gedanken schließlich. Die Annahme, dass hier etwas fehle bzw. wieder etwas hingehöre, taucht vor allem deshalb zuerst im Bewusstsein auf, weil die Jahrhunderte lang praktizierte Stadtplanung und Bautradition – was sich insbesondere in der steinernen Stadt des späten 19. Jahrhunderts wiederspiegelt – mit Verdichtung und unerschöpflichen Expansionsbestrebungen einherging. Es handelt sich also in diesem Fall um eine tief in uns eingelagerte Struktur, die erstmal als solche enttarnt werden muss, um sie schließlich überwinden zu können.
Wie und wo lässt sich so eine Struktur brechen? Ganz einfach, man geht an die Stelle im sozialen Raum, wo die Struktur schon gebrochen vorzufinden ist. Die Frage muss also lauten: Was geschieht, wenn ein Gebiet oder Gebäude der Zerrüttung betreten wird? Durch das Begehen können sich Gedanken und Gefühle zu den Prozesshaftigkeiten, die sich um und an diesem Orte ergeben, ausbilden. Denn durch die direkte Begegnung kann nach und nach eine produktive und unvoreingenommene Auseinandersetzung mit einer derartigen Stelle entstehen. Dabei entpuppt sich das anscheinend Mangel- und Fehlerhafte bald als eine soziale Bruchstelle im gesellschaftlichen Gefüge, an der die sozialen Wandlungsprozesse der Arbeitsgesellschaft veranschaulicht werden können. An Stellen und Räumen in der Gesellschaft, in denen sich das Lohnarbeitsparadigma als dysfunktional herausstellt, entwickeln sich nämlich Phänomene, deren Wert und deren herausragende Bedeutung für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel Geltung erreichen könnten.
Was für Prozesse eine Person letztlich an diesen Orten und auf diesen Gebieten in und um sich auslöst, mag in ihrem Inhalt sehr verschieden sein, aber in ihrer Struktur haben diese Vorgänge etwas gemeinsam, denn zum einen wurde die erste Hürde in Richtung Öffnung, Unmarkiertheit und Experimentalität genommen, zum anderen entsteht eine Verhältnis zwischen der Person und dem negativ konnotierten bzw. als mangelhaft erklärten Raum. Diese Bereiche sind unverstellte Flächen, die einen weder vor den gesellschaftlichen Verhältnissen noch vor den Verhältnissen in sich schützen, demnach kann hier ein Feld der Konfrontation und der Projektion entwickelt werden.
Diese Orte sind keinesfalls tote Orte, wie sie in der Öffentlichkeit seit Längerem klassifiziert werden, es sind vielmehr Areale, die frei von herkömmlicher Wachstums- und Konsumstruktur sind. Zu schnell kann an diesen Plätzen das Potential des Erkennens von individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen durch romantisierende und abenteuerliche Vorstellungswelten verspielt, verkannt und verklärt werden. Deshalb ist es von großer Bedeutung, Gebiete und Orte der Zerrüttung in den Kontext der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft – mit deren überflüssiggemachten Menschen – zu stellen, da diese entkoppelten Gebiete unmittelbares Resultat des Erwerbsarbeitswandels und Folgeerscheinungen des abhanden gekommenen Wachstums sind. Sie sind triste, brutale und unsichere Gegebenheiten in einer Gesellschaft, die permanent von Lichtern und Leuchtwerbetafeln geblendet wird.
Wesentlich ist, dass sich jedeR ihren/seinen eigenen Zugang zu diesem Phänomen schafft, weil sich nur so vielschichtige Zugänge entwickelt lassen können, auf deren Grundlage die Logik der Wachstumsgesellschaft aufgedeckt und hinterfragt werden kann – das ist eine politische Handlung.
Die andere Person