Verdächtige Gedanken


„Danke auch für die Einladung, Texte für Euren Blog zu schreiben. Bei mir ist es aktuell so, dass ich mir sowas nicht so schnell aus den Fingern sauge. Gerne verweise ich aber auf Texte, die ich mal bei den Surfpoeten veröffentlicht habe. Zumindest die Ermittlungsbehörden zeigten Interesse, sind beide doch in den Akten zu finden.“

Florian L.

Verpflegt & Abgeführt

„Und jetzt finden sich mal alle zusammen die im gleichen Monat Geburtstag haben!“ Das „Wir lernen uns kennen“-Spiel geht in eine neue Runde, die motivierte Mentorin bringt Schwung ins Klassenzimmer. Die glorreichen Neunzehn und ich latschen leicht desorientiert durch den Raum, in der hinteren Ecke belausche ich einen verschwörerischen Datenabgleich. „April, April?“
„Nee, November!“

Zwanzig auffällige Erscheinungen streben dem Ausbildungsziel zur staatlich examinierten Altenpflegekraft entgegen. Nach diesem ersten Tag glaube ich, das Schlimmste überstanden zu haben. Dumm nur dass der Schulbesuch nebenberuflich stattfinden muss, meine Mitschüler und ich verdingen uns bereits als Ungelernte in der Altenpflegeszene. Dabei hätte alles so schön werden können.

Scheine-Vorlesungen-Silvester,die pseudointellektuelle Unizeit nehme ich nicht besonders ernst, hauptsache der BAFöG-Rubel rollt. Leider nur bis zum fünften Semester. Mein aufopferndes Engagement in der autonomen Automatenbewegung wurde nie materiell entlohnt, allerhöchstens mal ideologisch gewürdigt. Trotzdem habe ich viel Zeit in diesem Revolutionsbiotop verbracht. Straßenkampf, schade, schade, alles ist vorbei!

Auch heute bin ich wieder ganz vorn mit dabei. Erste Reihe links, näher kann ich der Mentorin und der Kreidetafel nicht kommen. Weiter hinten findet sich der Mob, die ersten Gangs mit ihren jeweiligen Tonangebern kristallisieren sich heraus. Mir ist das zu blöde, ich bin nur der Bildung wegen hier. Wundversorgung, Knochenkunde, Abführmittel; die schöne und neue Welt ist bunt und das BRD-Pflegeexamen noch fern am Horizont.

Arbeit & Schule, pflegen & lernen, die Freizeit wird leiden. Noch finde ich das nicht schlimm, denn im fünften Jahr in Folge irgendwelche viertklassigen Nordnordostsportplätze im Namen eines Traditionsclubs aus dem Frontstadtteil zu besuchen macht deppressiv und eine Lebensabschnittsgefährtin habe ich auch nicht. Keine Regionalliga, kein Sex. Dabei sollte früher alles besser gewesen werden.

Vor einigen Monaten weilte ich bei zwei Vorstellungen des deutschen Sommermärchens 06. Spanien gegen Ukraine und Südkorea gegen die Schweiz. Teuer wars, schwül wars. Das hatte mit Fuß, das hatte mit Ball und auch mit Fußball nichts zu tun. War es in den vergangenen Jahren noch hipp, während stattfindener E oder W Meisterschaften mit Frankreich-, Jamaica- oder FC. St. Pauli-Trikots durch exalternative Stadtviertel zu schlendern, zeigten die Eventhools zur Meisterschaft im eignen Ländle ihr wahres Gesicht und marschierten in Schwarz-Rot-Gelb. Das Halbfinale wurde zu unserer dritten Halbzeit, mit rot-weiß-grünen Pizzapappen lässt es sich gut einen Baseballhandschuh imitieren.

Mittwoch der Dreizehnte, wie jedes Jahr organisiert mein Arbeitgeber die obligatorische Weihnachtsfeier für das umpflegte Klientel. Zum nichtbezahlten Fahrdienst melde ich mich freiwillig. Unter den Abzuholenden ist auch Brunhilde Müller, eine geborene Fleischfresser und ein rüstiges Plappermaul. Laut Fahrplan habe ich um 14 Uhr fünf ihre Klingel zu drücken. Um 13 Uhr 57 löse ich den Eintrittsalarm aus. Brunhilde reagiert prompt, gewährt mir aber Einlass.
„Mein Kleiner, haben se bei der Station kein Personal mehr, oder warum schicken se dich?“
„Frau Müller, wir kennen uns, wir warn schonmal zusammen bei Plus.“
„Kinders, ihr seid jut, jut seid ihr. Alle!“
„Na, is doch prima. Tasche, Schlüssel, Jacke an. Jaa, Fenster sind alle zu!“
„Mein kleiner Prinz, warum biste nich Dokta jewordn!?“

Der Rest der Besatzung, eine Müllersche Bekannte aus der Schöneberger Hauptstraße, wartet schon vorbildlich an der Hausausgangstür. Die letzte Etappe der Reise wird von meinen beiden Fahrgästen zu einer Lobeshymne aufs schöne Schöneberg genutzt. Frau Müller hat einen prominenten Ruf unter meinen Kolleginnen, deshalb scheuche ich die andere alleine mit ihrer rollenden Gehhilfe los und begleite Brunhilde persönlich zur Garderobenabgabestelle. Gelangweilte Blicke sind uns sicher, der rote Teppich ist überflüssig. Vorm Jackentresen bildet sich ein kurzer Stau, weitere Altenpflegeaktivsten wollen die Oberbekleidung ihres auserwählten Patienten gegen eine Nummer eintauschen. Kurz erkläre ich ihr die Spielregeln, wir sind fast am Ziel.

„Florian, du hier?“
„Aach, tach Yvonne. Auch nich fertig studiert?“
Mit der selbstbewussten Yvonne eint mich der Erwerb des Abiturs auf dem zweiten Bildungsweg. Auch haben wir zusammen studiert. Diplomtechnisch kam sie ins Ziel während ich ja auf halber Strecke disqualifiziert wurde. Überrascht wie ich bin freue ich mich wirklich, sie hier wiederzusehen. Spontan lade ich sie zu einer Raucherpause ein um mal zu hören, wie sie denn in der Altenpflegeszene gelandet ist.

„Ich hab doch noch nie geraucht!“ Macht nichts, wir tauschen die Erlebnisse der letzten Jahre aus. Ich schwadroniere über den Abgesang auf meine Autonomenkarriere. Yvonne spinnt den Faden weiter und liefert Schlagwörter: Lesben, Frauen-Lesben, Lesbenprojekt. Eine meiner nikotinsüchtigen Kollegin spitzt interessiert die Ohren, mit hoher Wahrscheinlichkeit werde ich in naher Zukunft als schwule Lesbe gehandelt.

Inzwischen nimmt die Seniorenweihnachtsfeier ihren Lauf, es gibt Kaffee und Kuchen, auch für Infaktgefährdete und Diabetiker. Eine Mädchengruppe von Zwölf- oder Dreizehnjährigen tanzt eine multikulturelle Bollywoodperformance. Aus der vorderen rechten Ecke erschallt der fordernde Ruf einer Patientin: „Singt doch mal deutsche Weihnachtslieder!“

Soviel spontanes Selbstbewusstsein treibt mir ein breites Grinsen ins Gesicht. Deutschland ein Weihnachtsmärchen.

Florian L.

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