Verschmelzungen


Räume individueller und gesellschaftlicher Transformation

Soziale Wirklichkeit besteht aus Widersprüchen. Hieraus ergeben sich Spannungsfelder, die Reibungspotentiale und Räume für Auseinandersetzung schaffen. Soziale Nischen und zerrüttete Orte sind Felder, die auf Begebenheiten und Möglichkeiten fern ab der dominanten Gesellschaftsdiskurse, die unser Bewusstsein und unseren Blick auf die Welt weitestgehend prägen, verweisen. Gebäude und Gebiete, die mit Prozessen des Verfalls und des Ausgegrenztseins zu beherrschen versucht werden, stehen exemplarisch und stellvertretend für eine generelle Entwertungslogik, die Menschen in der umfassend erodierten Arbeitsgesellschaft handlungsunfähig macht, sozial isoliert und stigmatisiert. Allerdings liegen die Ursachen der Ausgrenzung so gut wie nie am Ort ihrer Erscheinung!

Diese zerrütteten Räume markieren Bruchstellen im Gesellschaftsgefüge – sie bilden die notwendigen Lücken, um individuelle und gesellschaftliche Verengungen und rigide Kategorisierungen zu durchqueren, indem freies, experimentelles Denken möglich wird. Randständige und verfallene Gebäude fungieren als eine Art Transfermedium – sie sind nicht einfach nur Boten, noch viel weniger einfach nur Botschaft, denn sie lassen das Spiel gegenseitiger Projektion zu. Diese Möglichkeit unverfälschter und uneingeschränkter Interaktion macht sie zu wertvollen Schätzen in einer vom Sicherheitswahnsinn geplagten Gesellschaft, die Vielfalt und Bewegungsoptionen unentwegt reduziert.

Betrete ich Flächen und Orte, trage ich mein Selbst an etwas heran, gewähre aber auch Raum, um Intentionen und Zustände der Gebäude in mich aufzunehmen. Resultat dieser Vorgänge sind Begegnungen und Geschehnisse, die aus individuellen Eigenheiten und gesellschaftlichen Begebenheiten etwas Neues hervorbringen – Verschmelzungen. Diese Inhalte und Sichtweisen vermittle ich auf der Grundlage meiner fotografischen Arbeiten, die als sozialkritischer Beitrag bezüglich der herrschenden Verhältnisse zu fassen sind.

Die Orte der Leere verkörpern Prozesse praktischer und symbolischer Entstrukturierung, die mit der Auflösung herkömmlicher Denk- und Deutungsmuster einhergeht. Demnach liegt das Potential geradezu in der sozialen Entbundenheit dieser Gebiete. Auf der Grundlage des Ausschlusses ergeben sich notwendige, individuelle und gesellschaftliche Öffnungen, die nach einer Neubewertung sowie nach einem veränderten Umgang verlangen. Unmarkiertheit und Definitionslosigkeit bilden hier das Fundament für Neuordnung und Neuverortung sozial degradierter Räume.

Unter diesem Vorzeichen lassen sich einfache und randständige Architekturstücke in Raum- und Zeitschiffe verwandeln. Trotz sozialer Stigmatisierung und massiven Zerrüttungen spiegeln diese Gebäude (-Komplexe) Visionen und Intentionen ihrer ehemaligen Daseinsberechtigung ungebrochen wieder. Dieser Umstand, der von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist, macht sie zu besonderen Orten. Denn an ihnen können die Widersprüchlichkeiten im sozialen Raum gesehen und praktisch erlebt werden. Sie stellen Zwischenräume dar, in denen die uns vertrauten Zeitgrenzen verwischt und verschiedene Zeiträume übereinander gelegt werden. Ein Gebäude zu sehen, das in seiner Konzeption und Baustruktur die Vision einer klaren und besseren Zukunft wiederspiegelt, aber dessen aktueller Zustand auf Grund massiver Zerrüttungen eher einer Ruine gleicht, erfordert das Denken von Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Zeiten und Dimensionen bezüglich eines Objekts. Dies bedarf einer intensiven Auseinandersetzung und der Hinterfragung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie der Fähigkeit zur Selbstkonfrontation.

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2 Antworten zu “Verschmelzungen”

  1. […] Einen bemerkenswerten Artikel über bemerkenswerte Orte schrieb Daniel Schaub im Abrissblog: “Verschmelzungen” handelt von “Räumen individueller und gesellschaftlicher Transformation” und vermittelt mit seinem vor Substativierungen nur so strotzenden Soziologen-Jargon erstmal Fluchttendenzen. Und doch bleibe ich dabei, denn es geht um verlassene Gebäude, um Brachflächen und Stadtruinen, um all die Orte, die lange Zeit nicht gebraucht werden und mit ihrem Verfall eine interessante Abenteuerlandschaft mitten in der Stadt darstellen. […]

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