Die Notwendigkeit von Lücke und Leere im urbanen Raum
Wenn ich mich durch diese Stadt voller sichtbarer Zeitbrücken und -brüche bewege, dann dringen insbesondere die abgeräumten Flächen in mein Wahrnehmungsfeld. Genau dort fällt nämlich nicht nur im tatsächlichen Sinne mehr Licht auf Personen und Dinge, die sich temporär darauf befinden, sondern es kann auch im übertragenen Sinne mehr Licht auf das eigene Selbst einwirken. Denn auf einem verlassenen Gebiet oder in einem zerstörten Gebäude rückt das schützende Geflecht gesellschaftlicher Relationen in den Hintergrund, im Gegenzug dazu treten individuelle Zustände stärker in den Vordergrund – ein großartiges Feld der Beleuchtung.
Plätze und Zustände unmittelbarer und symbolischer Zerrissenheit haben die Prozesse gesellschaftlicher Entwertung reichlich durchlaufen. Wer sich mal in einen solchen Raum oder in ein solches Feld begibt, der wird ein gesellschaftlich randständiges Durcheinander vernehmen – ein Feld der Verirrung und Verwirrung – voll von Resten, Scherben und Liegengelassenem. Wer sieht schon gerne die Reste vormals funktionierender Orte und Verhältnisse? Wer sieht schon gerne in sich hinein und stößt dabei auf Bruchstellen und gesellschaftlich negativ konnotiertes Material? Im Normalfall bietet die Möglichkeit üppigster Konsumtion Schutz vor solchen Momenten des Fragens und Erkennens. Speziell deshalb eignen sich gerade leere und verlassene Flächen zwischen herkömmlich funktionierenden Gebäuden und Strukturen, um der Imagination sowie der Experimentalität ganz unterschiedlicher Personen Raum einzuräumen, ohne dass diese sich in die private Kammer zurückziehen müssen. Die tendenzielle Undefiniertheit und Offenheit dieser Gebiete – in struktureller und inhaltlicher Dimension – ermöglichen, aber erfordern auch Denken, Handlungen und Kommunikationen, die mit den überkommenen Vorgaben reiner Effizienzlogik und Expansionsbestrebungen aufzuräumen beginnen. Hieraus resultieren Leerstellen im Denken – Konfrontation mit Neuem. Ein verändertes Denken kann eben genau dann entstehen, wenn die inneren und äußeren Lücken – im Denken von Personen und im physischen Raum – nicht sofort wieder geschlossen werden, sei es aus Angst, Not, Gewohnheit, Pragmatismus oder Sicherheitsbestrebungen.
Leere und Lücke im urbanen Raum bieten Flächen für Projektionen, da etwas an sie herangetragen, aber auch etwas von ihnen mitgenommen werden kann – Impulssendungen und Verhältnisse entstehen und vollziehen sich. Hier geht es nicht um Aneignung, sondern um Austausch. Hier geht es nicht mehr um Dauerhaftigkeit – Ideen in Beton gießen – vielmehr um Raum, der frei bleibt, um prekäre Transformationen in erweiterte Denkformationen zu ermöglichen. Diese Orte sind nicht das Finale, sie sind die Wegbereiter für vielerlei Ideen verschiedenster Personen. Wer die Mauern, die Zäune oder die Behelfskonstruktionen in sich und im physischen Raum an mancher Stelle überwindet und ein Stück weit hinter sich lässt – aus Überlebensgründen oder einfach nur aus Lust am Leben – die/der entfernt sich zumindest für ein paar Momente vom Verlangen nach Gewissheit und erlebt Ungeregeltes, vielleicht auch Schockierendes, aber in jedem Fall nachhaltig Bewegendes. So etwas kann man jeden Tag machen. Dazu braucht man kein Geld. Zumeist befinden sich solche Orte schon um die Ecke der eigenen Kammern.
Die andere Person
2 Antworten zu “Warum wir freie Räume brauchen”
Schöner Beitrag.
Spätestens jetzt weiß ich, warum ich eine größere Wohnung bräuchte, gerne heruntergekommen 🙂
Lieber Lücke und Leere in der Stadt, als im eigenen Kopf, wa? Ick verstehe ditt, ihr Lieben, dass ihr lieba Variante 1 wählt!